13. Jahrgang | Nummer 12 | 21. Juni 2010

Manipulitis

von Wolfgang Schwarz

Nach der Lektüre von Albrecht Müllers Buch „Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen“ kann das Fazit eigentlich nur lauten: Keine, zumindest keine bürgerlichen Tages- und anderen Zeitungen mehr lesen sowie im öffentlich-rechtlichen und schon gar im privaten Fernsehen und Radio vorsichtshalber alle Formate und Sendungen mit auch nur entfernt politischem Touch strikt meiden, um der allgegenwärtigen Manipulation durch die politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Eliten des Landes und ihre willfährigen Wasserträger in den Medien jeglicher Couleur zu entgehen. Und Manipulation meint hier nicht die eher soften Appelle und Botschaften zur Beeinflussung unseres Konsumverhaltens. Hier geht es um die Hardcore-Variante, also um Beeinflussung in einem Maße, dass von einem Großteil der Bevölkerung die eigenen vitalen Interessen nicht bloß nicht mehr reflektiert, sondern möglichst ignoriert werden und dass im Falle des Falles direkt gegen diese agiert oder votiert wird – z. B. bei Wahlen. Doch Gott sei Dank gibt es Alternativen zu der überwältigen Phalanx an Manipulationsakteuren, -mechanismen und –methoden sowie wechselnden -kampagnen, von denen wir umstellt sind: Die Schriften Albrechts Müllers studieren und täglich den von ihm mit verantworteten medienkritischen Blog NachDenkSeiten (http://www.nachdenkseiten.de) im Internet aufrufen!
Dieser Einstieg in die vorliegende Rezension spitzt natürlich zu. Das ist legitim, bemüht doch Müller selbst dieses Stilmittel nur allzu gern. Gleich zu Beginn soll damit aber auch auf den missionarischen, bisweilen leicht penetranten Duktus von Albrecht Müller abgehoben werden, dessen Belehrungs- und Bekehrungseifer manchem (mit)denkenden Leser die Lektüre etwas verleiden könnte.
Könnte – nicht sollte, denn alles in allem ist dem Autor einmal mehr ein lesenswertes Buch gelungen, als dessen Fazit jene fünf Fehlstellungen dienen können, die der Autor dem Leser bereits in einer Vorbemerkung unterbreitet: „Erstens: Meinung macht Politik. Die öffentliche Meinung ist oft maßgeblich für die politischen Entscheidungen. Zweitens: In vielen Fällen bestimmt allein die veröffentlichte Meinung, also die von den tonangebenden Personen, Gruppen und Medien mehrheitlich vertretene Meinung, die politischen Entscheidungen. Drittens: Meinung kann man machen. Das wissen auch jene, die zur Durchsetzung ihrer Interessen politische Entscheidungen bestimmen wollen. Viertens: Wer über viel Geld und/oder publizistische Macht verfügt, kann die politischen Entscheidungen massiv beeinflussen … Fünftens: Die totale Manipulation ist möglich. Die gleichgerichtete Prägung des Denkens vieler Menschen ist möglich.“
Was Müllers letztgenannte Feststellung anbetrifft, so ist der Sachverhalt als solcher spätestens seit der Nazi-Herrschaft im Dritten Reich evident. Aber wozu es seinerzeit noch eines diktatorischen, auch nach innen terroristischen Staats- und Unterdrückungsapparates bedurfte, das wird heute, wie sich aus Müllers Text schlussfolgern lässt, sehr viel effektiver und nachhaltiger im Rahmen und mit den Mitteln einer scheinbar funktionierenden parlamentarischen Demokratie bewirkt – vornehmlich durch ein Kartell neoliberaler Kräfte, denen es über Jahre gelungen ist, ihren „Glauben an die heilsame Wirkung von Privatisierung, Deregulierung, Entstaatlichung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche“ zum Mantra der bundesrepublikanischen Gesellschaft und vor allem des politischen Establishments bis hin zur SPD und den Grünen zu machen. Als treibende Kräfte identifiziert Müller in diesem Kontext die Bertelsmann-Stiftung, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, große PR-Agenturen und Beratungsunternehmen, wirtschaftsnahe Forschungsinstitute, einschlägige Medien mit der „Bild“-Zeitung an der Spitze und andere Akteure mehr, deren Interessen und Ideologie mit den Vorstellungen einer breiten Bevölkerungsmehrheit von einer solidarisch gestalteten Gesellschaft „nicht zu versöhnen“ seien. Müllers Einschätzung dieser Kräfte lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Die heute tonangebenden ‚Eliten’ stehen nicht auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung.“
Wie erfolgreich diese „Eliten“ in den vergangenen 15 Jahren agiert haben, zeigt sich innenpolitisch an der schrittweisen Demontage der sozialen Sicherungssysteme von der Arbeitslosen- über die Rentenversicherung bis hin zum Gesundheitswesen ebenso wie in der zunehmenden Ökonomisierung der universitären Ausbildung und ihrer verflachenden Anpassung an die Bedürfnisse der Wirtschaft durch Übernahme des amerikanisch geprägten Bachelor-/Master-Schnellbesohlungssystems. Und außenpolitisch wurde die Bundesrepublik in dieser Zeit auf einen Weg geführt, der die Bundeswehr für Kriegs- und andere internationale Militäreinsätze verfügbar gemacht hat – auch wenn diese in der offiziellen Terminologie als „Friedensmissionen“ firmieren.
„Meinungsmache“, so Albrecht Müller, „ist heute bei Ländern wie dem unseren das lautloseste und sanfteste Mittel zur Machteroberung und Machtausübung.“ Was der Autor dazu insgesamt an Fakten, Vorgängen und Entwicklungen zusammengetragen, am Einzelfall seziert und darauf basierend in größeren Zusammenhängen analysiert hat, ergibt ein Pandämonium der bundesrepublikanischen Demokratie, in dessen Quintessenz sich der Rezensent auf die Frage gestoßen sieht, ob Müllers Diagnose – „Unsere Demokratie befindet sich am Rand ihrer Existenz.“ – nicht zu kurz greift. Es könnte gut sein, dass diese Gesellschaft schon mehr als nur einen Schritt weiter ist.

Albrecht Müller: Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen. Droemer, München 2009, 447 Seiten, 19,95 Euro