von Peter Drescher
Ein dickes Sagenbuch – welch Jauchzen bei lesegeneigten Kindern und anderen Freunden dieses Genres. Aber halt! Im Buch der Hamburger Germanistin und Bechstein-Forscherin Susanne Schmidt-Knaebel werden beileibe „nicht einfach so“ Bechsteinsche Geschichten ausgebreitet, nein, es werden wissenschaftlich tiefgründig, detailliert und höchst anspruchsvoll Untersuchungen zu den Sagen Ludwig Bechsteins präsentiert. Dem 1801 in Weimar Geborenen, einem Adoptivkind, behagte wohl sein späterer „Job“ als Apothekergehilfe nicht sonderlich, das Wischen und Kehren des Ladens, die Putzerei an Kesseln und Geräten, das Pillendrehen und Einrühren von Pulvern, denn er stellte seinen Brotberuf hinter die dichterisch-schriftstellerische Betätigung und veröffentlichte schon als Zweiundzwanzigjähriger ein kleines Bändchen mit Thüringer Volksmärchen. Als er dann seinen „Sonettenkranz“ herausgab, war der Weg zum Studium der Geschichte, Philosophie und Literatur nicht mehr weit. Danach avancierte er zum Bibliothekar, Archivar und Hofrat, gründete den Südthüringer Hennebergischen altertumsforschenden Verein, war ein fleißiger Dichter und Literaturwissenschaftler. Bekannt wurde er durch seine Märchensammlungen, sah jedoch selbst den Schwerpunkt seiner Sammlertätigkeit bei der Dokumentation von Volkssagen. Überraschend für Nicht-Eingeweihte ist es, von der Autorin gleich am Anfang zu erfahren, daß Bechstein der eigentliche Fachmann auf dem Gebiet der Sagen und der Sagenforschung ist. Weit vor den Brüdern Grimm. Die brachten es „nur“ auf 746 diesbezügliche Arbeiten, während es bei Ludwig Bechstein — 2532 waren.
Bechsteins Sagenbestände standen rezeptionsgeschichtlich bislang zu Unrecht im Schatten der Grimmschen „Deutschen Sagen“. Dem begegnet Schmidt-Knaebel und beleuchtet Sagenformen, gibt Textanalysen, untersucht in „linguistischen Kommentaren“ Gestaltungsprinzipien, weist auf bewußt unterschiedliche Tempi hin, sie geht auf Quellschriften ein, unternimmt abschließende Auswertungen. Ihr Buch verfügt über einen voluminösen Anhangapparat, in einer alphabetischen Titelliste werden – in Textnummer, Texttitel und Kommentarseite unterteilt — 376 (!) Bechstein-Sagen aufgeführt, die von ihr bestechend exakt behandelt werden, genaueste Analysen erfahren. So hat sie beispielsweise das „seltsame Wappen“, das über der Eingangstür des Rathauses zu Tiefenort an der Werra prangt, „in der Mache“. Warum ist in dem Wappen eine „Couer-Sechs“ zu finden? Man sagt, der letzte Bewohner, ein Graf Beichlingen, sei eine Spielernatur gewesen und auch dem Humpen ergeben. In leichtfertiger Weise hat er den Rest seines Besitzes auf eine Herz-Sechs gesetzt und verspielt. Seine einflußreichen Verwandten erreichten zwar, daß der Landesherr die Schulden bezahlte und ihm den Hof als unveräußerlich zurückgab, doch zur Strafe mußte er in seinem Wappenschild die Herz-Sechs aufnehmen.
Eine wahre Fundgrube für den Sagenforscher!
Susanne Schmidt-Knaebel seziert, ermittelt Hintergründiges, Linguistisches, deutet auf semantische Mittel und läßt Quellschriften einfließen. Sie hebt Bechsteins poetischen Stil hervor, der kennzeichnend für ihn ist.
Das Buch ist trotz Aussagen wie „alliterierende nominal-substantivische Variante“ durchaus auch für den „gewöhnlichen“ Interessierten, für Ortschronisten und Heimatforscher lesenswert. Nicht zuletzt ist die umfängliche Abhandlung ein kräftiger Beleg dafür, daß Sagen oft einen realistischen Hintergrund aufweisen. Bräuche, ein Ereignis, bestimmte Persönlichkeiten, Landschaftliches, ein Kreuzstein, eine Salzsäule. Oder die Herz-Sechs in einem Wappen.
Susanne Schmidt-Knaebel: Ludwig Bechstein. Prosasagen außerhalb der großen Anthologien (1826-1859), Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2008, 97,50 Euro
Schlagwörter: Ludwig Bechstein, Peter Drescher, Sagen, Susanne Schmidt-Knaebel