13. Jahrgang | Nummer 9 | 10. Mai 2010

Die Kehrseite der Medaille

von Elisabeth von Ah, Slocan, British Columbia

Die Olympiade in Vancouver ist beendet, schon blickt die Welt nach England und Rußland, wo die nächsten Spiele stattfinden. Den kanadischen Gastgebern bleiben der Rückblick auf sportliche Rekorde und der Stolz, ausländische Besucher beeindruckt zu haben. Doch es bleibt auch ein immenser Schuldenberg für British Columbias Steuerzahler verbunden mit Umweltschäden, die Naturschützer und indianische Ureinwohner beklagen.

Den über fünftausend aktiven Athleten, ihren Betreuern, zahlreichen Besuchern und über zehntausend Presseleuten hat sich Vancouver von seiner besten Seite präsentiert. Das Fernsehen zeigte in Nationalfarben gekleidete und Flaggen schwenkende begeisterte Zuschauer. Proteste gegen die Spiele wurden nur am Rande erwähnt. Nun, nachdem der Rummel vorbei ist, tritt die traurige Hinterlassenschaft der Olympiade ans Tageslicht und verursacht in BC eine Katerstimmung wie nach einer durchgezechten Zweiwochenparty.

Besuchern, die sich in den letzten Jahren ins Downtown Eastside Viertel von Vancouver zwischen dem Touristenanziehungspunkt Gastown und Chinatown verirrt haben, bot sich ein Blick, den niemand von Kanada erwartet hatte. Hier leben geschätzt rund 5000 Obdachlose auf der Straße, in abbruchreifen Häusern, Hauseingängen, Parks. Es sind Alkohol- und Drogenabhängige, Straßenprostituierte und Strichjungen und Menschen, die in soziale und persönliche Schwierigkeiten geraten sind. Dem Besucher wird es hier unheimlich, man fühlt sich unwohl, bekommt Angst, glaubt seinen Augen das Elend und den Dreck nicht, den sie sehen, ist entsetzt und schockiert über das Ausmaß menschlicher Verwahrlosung und froh, wenn man hier wieder raus ist. Doch Besuchern der olympischen Spiele wurde dieser Blick vorenthalten. Um sich bestens zu präsentieren, verfrachtete die Stadt Obdachlose kurzerhand per Gesetz mit Gewalt vorrübergehend an Orte, wo sie kein Tourist und Pressemensch sah.

In BC gibt es 10.000 Obdachlose, und vor allem im kanadischen Winter ist ihr Elend unbeschreiblich. Die Politiker behaupten, zum Bau von preiswertem Wohnraum und Unterhalt von Schutzeinrichtungen sei kein Geld vorhanden. Bei Bewerbung um die Austragung der olympischen Winterspiele, bewertete die BC-Regierung die Kosten mit 600 Millionen Dollar und die Einnahmen mit 1,6 Milliarden Dollar. Heute beläuft sich die vorläufige Kostenkalkulation auf über sechs Milliarden Dollar, wovon nach Einnahmen rund 4,4 Milliarden als Defizit zu Lasten der 4,4 Millionen Einwohner bleiben werden. Wieviel Geld das ist wird deutlich, wenn man ausrechnet, daß man jedem einzelnen der Obdachlosen dafür eine Villa für 440.000 Dollar kaufen könnte.

In einem Land, in dem die Kinderarmut seit Jahren kontinuierlich ansteigt und wo Food Banks für Bedürftige in jeder Gemeinde existieren, ist kein Geld da, jedem Obdachlosen täglich eine warme Mahlzeit zu finanzieren. Doch es war vorhanden, um wochenlang mit LKW-Kolonnen Schnee aus 300km Entfernung für die Skiwettbewerbe heranzukarren.

1976 hinterließen die olympischen Winterspiele im kanadischen Montreal ein Defizit von 1,5 Milliarden Dollar. Im Jahr 2006 haben die Steuerzahler der Provinz Quebec davon die letzte Rate bezahlt – nach 30 Jahren! Steuerzahler von BC können sich bei veränderter Wirtschaftslage mindestens auf 50 Jahre Abzahlung oder mehr einstellen. Und dabei sind die langfristigen Kosten für begangene Umweltzerstörungen noch gar nicht eingerechnet. Brot und Spiele hielten das römische Volk bei Laune. In Vancouver gab es Spiele auf Pump und ohne Brot für die Armen. Das ist die Kehrseite der Medaille.