von Wolfgang Schwarz
Ob die endgültige Erosion des internationalen Regimes zur Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen in Gestalt des Non-Proliferation Treaty (NPT) noch aufgehalten werden kann, ist eine Frage, für deren Verneinung einiges spricht. Die aktuellen Stichworte dafür sind vor allem Nordkorea und Iran sowie die offensichtliche Unfähigkeit der internationalen Staatengemeinschaft, mit diesen Entwicklungen fertig zu werden. Einen maßgeblichen Substanzverlust hatte das NPT-Regime während der zweiten Amtszeit des US-Präsidenten George Bush erlitten, als die USA die illegale Atommacht Indien vom nuklearen Parvenü zum quasi offiziellen Mitglied im Atomwaffenklub adelten (siehe Blättchen Nr. 22/2008, S. 17ff.). Vor diesem Hintergrund bleibt zu hoffen, daß ein kürzliches Diktum von US-Außenministerin Hillary Clinton zuvörderst auch Ausdruck von Selbsterkenntnis war: „Alle Länder müssen erkennen, daß das Nichtverbreitungsregime nicht fortbestehen kann, wenn diejenigen, die es verletzten, ungestraft davonkommen.“
Experten sind sich darüber einig, daß der für Mai anstehenden turnusmäßigen NPT-Überprüfungskonferenz eine entscheidende Bedeutung zukommt und daß dieser Konferenz überhaupt nur eine Chance einzuräumen sei, wenn es den USA und Rußland zuvor gelänge, den mindestens seit 2002 stagnierenden Prozess der strategischen Abrüstung zwischen beiden Seiten wieder in Gang zu setzen und damit Glaubwürdigkeit im Hinblick auf die in Artikel 6 des NPT enthaltene Verpflichtung der Atomwaffenmächte zum Abbau der eigenen Arsenale zurückzugewinnen. Hinzu kommt, daß das letzte ratifizierte strategische Abrüstungsabkommen zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion – der START-I-Vertrag von 1991 – am 5. Dezember 2009 ausgelaufen ist. Insofern kommt dem am 8. April in Prag unterzeichneten neuen russisch-amerikanischen START-Vertrag zur weiteren Reduzierung und Begrenzung strategischer Kernwaffen eine über seinen eigentlichen Gegenstand hinaus gehende Bedeutung zu.
Über den Inhalt des Vertrages – sein Wortlaut war bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht veröffentlicht – wurde in einem Datenblatt des Weißen Hauses unter anderem Folgendes referiert: Jede Seite dürfe 1.550 nukleare Gefechtsköpfe einsatzbereit stationieren. Das seien 30 Prozent weniger als in den amerikanisch-russischen SORT-Vereinbarungen von 2002. Die Anzahl strategischer Trägermittel (landgestützte Langstreckenraketen/ICBM, U-Boot-gestützte Raketen/SLBM und Fernbomber) werde auf 800 reduziert, wovon maximal 700 tatsächlich nuklear armiert sein dürften; das letztgenannte Limit läge um mehr als 50 Prozent unter dem des START-I-Vertrages.
Sieben Jahre nach Inkrafttreten durch Ratifizierung müßten die vereinbarten Obergrenzen erreicht sein. Der Vertrag laufe über zehn Jahre und enthalte eine Option zur Verlängerung um maximal fünf Jahre. Hillary Clinton resümierte: Mit dem Abkommen werde „die Zahl der strategischen Atomsprengköpfe in unseren Arsenalen auf ein Niveau gesenkt …, das es seit dem ersten Jahrzehnt des Atomzeitalters nicht mehr gegeben hat“. Zugleich zeuge der Vertrag „von unserer Entschlossenheit, unseren Verpflichtungen im Rahmen des Nichtweiterverbreitungsvertrages nachzukommen“.
Um speziell die letztgenannte Einschätzung ohne Einschränkungen zu teilen, muß man allerdings bereit sein, fünfe gerade sein zu lassen, denn Details des Vertrages selbst und weitere Aspekte, die ausgeklammert wurden, legen die Schlußfolgerung nahe, daß die Vertragsparteien zumindest teilweise Etikettenschwindel betreiben. Im Unterschied zu bisherigen amerikanisch-sowjetischen und –russischen Abrüstungsvereinbarungen werden z. B. Fernbomber nicht mehr mit zehn Gefechtsköpfen gezählt – je nach Typ können sie zwischen sechs und 20 befördern – sondern nur noch als ein Gefechtskopf. Damit können, wie Hans Kristensen von der Federation of American Scientists ermittelt hat, die USA de facto 450 und Rußland sogar 860 Sprengköpfe über die jetzt vereinbarte Vertragsobergrenze von 1.550 hinaus einsatzbereit halten. Zum Vergleich: Dieser „Überhang“ verkörpert allein insgesamt mehr Sprengköpfe, als alle anderen Atomwaffenmächte derzeit zusammen besitzen. Darüber hinaus erfasst der Vertrag nur unmittelbar einsatzfähige Sprengköpfe. Es ist aber bekannt, daß beide Seiten zusätzlich zahlreiche Systeme „in Reserve“ halten. Über die wurde nichts vereinbart. Und schließlich ist die eigentliche Abrüstungssubstanz des Abkommens im Hinblick auf die strategischen Trägersysteme mehr als ernüchternd: Die USA müssen lediglich einige Dutzend Systeme verschrotten, um die Obergrenze von 800 einzuhalten, und Rußland verfügt ganz und gar nur noch über etwa 550 Systeme, könnte also massiv zurüsten. Zu erwarten ist das allerdings nicht, da dem Land dafür die Gründe und – entscheidender – die finanziellen Mittel fehlen.
Des Weiteren perpetuiert auch das jetzige Abkommen einen grundlegenden Mangel sämtlicher bisherigen Vereinbarungen zu strategischen Nuklearsystemen: Er erlegt beiden Seiten wiederum keine ernsthaften Beschränkungen für qualitative Rüstungsschritte, also für die fortlaufende Modernisierung des vorhandenen Arsenals auf. Was das auf amerikanischer Seite bedeutet, hat die wenige Tage vor der Prager Vertragsunterzeichnung veröffentlichte Nuclear Posture Review (NPR) deutlich gemacht, die Präsident Barack Obama in Auftrag gegeben hatte. Das ist ein programmatisches Grundsatzdokument, das neu gewählten Präsidenten dazu dient, die nukleare Strategie und das nukleare Potential sowie die entsprechenden Rüstungsplanungen einer grundlegenden Inventur zu unterziehen und gegebenenfalls zu modifizieren. Das jetzige Dokument offenbart, daß viele Komponenten der strategischen Triade der USA – ICBMs, SLBMs und Fernbomber – in den nächsten Jahren und Jahrzehnten modernisiert oder neu entwickelt werden sollen. Das gilt zum Beispiel für landgestützte Minuteman-III-Raketen, deren Modernisierung läuft, um ihre Lebensdauer bis 2030 zu verlängern. Das gilt für die W-78-Sprengköpfe der Trident-SLBMs, die modernisiert werden. Vorangetrieben wird auch die Entwicklung eines neuen Träger-U-Bootes, das die heutige Ohio-Klasse ab 2027 ablösen soll, um nur einige zentrale Vorhaben zu nennen. Die Atomwaffen-Befürworter, so kommentierte der Chef des Berliner Informationszentrums für transatlantische Sicherheit (Bits), Ottfried Nassauer, „haben all ihre Wunschprojekte durchbekommen“. Das läßt die in der NPR auch getroffene Aussage, daß die USA künftig auf den Bau neuer Atomwaffen verzichten wollen, was viele Beobachter als grundlegende Wende in der amerikanischen Atomwaffenpolitik interpretiert haben, in einem eher zweifelhaften Licht erscheinen. Denn daß fortlaufende Modernisierungen an irgendeinem Punkt aus einem alten Waffensystem ein qualitativ neues machen können, wird von Experten nicht ernsthaft bestritten. Angesichts dieser Sachverhalte erscheint es schon fast folgerichtig, daß Obamas Entwurf für den Verteidigungshaushalt 2010 für Kernwaffen eine 13,4-prozentige Budgeterhöhung auf 11,2 Milliarden US-Dollar vorsieht.
All dies sieht nicht nach einem konsequenten, raschen Weg zur Realisierung von Obamas Vision von einer kernwaffenfreien Welt aus, die er genau ein Jahr vor der jetzigen Vertragsunterzeichnung in Prag an gleicher Stelle vorgetragen hatte. Man muß dem amerikanischen Präsidenten allerdings konzedieren, daß die Widerstände, die sich ihm auch in dieser Hinsicht im eigenen Lande entgegenstellen – im Kongress, im Pentagon und im gesamten Sicherheitsestablishment sowie vonseiten konservativer Medien und Think-Tanks – immens sind. Exemplarisch dafür ist ein Statement von General Kevin Chilton, der als Befehlshaber des US Strategic Command für Kernwaffen zuständig ist. Er sagte am 15. Dezember 2009 auf einer Tagung von Miltär- und Rüstungskontrollexperten in Omaha, Nebraska: „Wir werden Nuklearwaffen benötigen, solange es die Vereinigten Staaten gibt.“
Man muß nicht soweit gehen wie Selig S. Harrison vom Center for International Policy in Washington jüngst in der LE MONDE diplomatique und Obama bescheinigen, daß er „die Schlacht um die atomare Abrüstung“ im eigenen Land bereits verloren habe. Aber ob das jetzige amerikanisch-russische Abkommen tatsächlich ein Neu-Start ist und das Zeug dazu hat, das NPT-Regime zu stabilisieren und ihm eine Zukunft zu geben, wird sich erst noch zu erweisen haben.
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