von Gerd Kaiser
Anzuzeigen ist das jüngst erschienene und ungewöhnliche Werkbuch „Der gewöhnliche Faschismus“, über Michail Romms aufsehenerregenden gleichnamigen Kompilationsfilm aus historisch überliefertem Bild- und Fotomaterial, das von ihm analysiert und kommentiert wird. Zu seiner Weltkarriere startete der Film 1965 auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival unter außergewöhnlichen Umständen, von denen hier und vor allem im Buch die Rede ist. Um die Vorgeschichte, Entstehung, Verbreitung und die Aufnahme des Films, aber auch des vorliegenden Buches, das diese Themenfelder dokumentiert und analysiert, ranken sich zahlreiche und wiederum ungewöhnliche Geschichten.
Das ideenreiche Buch zum Film erschien knapp ein halbes Jahrhundert nach dem Film. Auf den ersten Blick obwohl, eigentlich aber weil der Film auf Anhieb ein Welterfolg war – jedoch Sichtweisen ermöglichte, die nicht erwünscht waren.
Deshalb erschien das im sowjetischen Verlag Iskustvo bereits zum Druck vorbereitete und „genehmigte“ Werkbuch nicht zu sowjetischen und nicht gleich in postsowjetischen Zeiten. Nunmehr kann man im vorliegenden und auch buchgestalterisch eindrucksvollen Band (S. 60 bis 251) Seite für Seite Einblick in die Werkstatt der Filmentstehung, Bildeinstellungen (linke Leiste) und Kommentartext Michail Romms (rechte Leiste) nehmen. Erstmals konnten Leser, vor allem weil Maja Turowskaja, neben Juri Chanjutin und Romm Drehbuchautorin des Films, die Vorlagen und noch mehr ihre Erinnerungen an die Geschichte(n) bewahrte, das Werkbuch 2006 in russisch und seit 2009 auch in einer vorbildlichen deutschsprachigen Ausgabe in die Hand nehmen.
Der Streifen entstand nach der ursprünglichen Idee von Turowskaja und Chanjutin auf der Grundlage einer Auswahl aus zwei Millionen Metern Film aus NS-Wochenschauen und Dokumentarfilmen, aus in Ledersäcken aufbewahrten Fotografien von Hitlers Leibfotografen Heinrich Hofmann und aus Schnappschüssen der Täter, die ihre Untaten privatim in Aufnahmen verewigten oder deren Untaten durch die eigens geschaffenen Propagandakompanien unter dem Befehl des Wehrmachtgenerals Hasso von Wedel dokumentiert wurden. Dazu kamen Film- und Fotodokumente aus Archiven und Sammlungen in der UdSSR, in Polen und der DDR. Der Vorspann der Originalfassung listet knapp zwei Dutzend historische Quellen auf, aus denen die Filmleute schöpften. Es entstand jedoch keine bebilderte und mit zeitgenössischer Kommentarsauce angerichtete Chronik, vielmehr unternahmen die Filmschöpfer den Versuch, den Faschismus in seiner psychologischen Dimension zu analysieren. Das verschaffte dem Film außergewöhnliche Wirkungen, schränkte jedoch auch sein analytisches Wesen ein. Vor allem, weil prägende Ursachen und Wirkungsmechanismen des Faschismus zwar schriftliche, jedoch keinerlei filmische Spuren hinterlassen haben. Zwei Beispiele dafür: Bereits am 3. Februar 1933, vier Tage nach dem Antritt der Regierung Hitler, traf sich dieser zu einer Besprechung im Bendlerblock zu Berlin mit Befehlshabern von Reichswehr und Reichsmarine; unter anderen den Generalen Walter von Blomberg, dem eben ernannten Reichskriegsminister, dem Chef der Heeresleitung, General Kurt von Hammerstein-Equord, dem Chef der Marineleitung, Admiral Erich Raeder und einer Reihe weiterer Militärs in Schlüsselstellungen, die ihre Karriere, bis auf Hammerstein, der zurücktrat, mit dem Programm des Nazireichs verbanden. Der gewöhnliche Faschismus ließ von Anfang an keinen Zweifel daran, daß er für die Erreichung seiner Ziele auf den Krieg im Inneren, „die Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie (…) die Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stil“ und im Krieg nach außen, auf den Weltanschauungs- und Weltherrschaftskrieg setzte, die „Eroberung neuen Lebensraums im Osten u. dessen rücksichtslose Germanisierung“ Davon gibt es schriftliche Zeugnisse, aber weder ein filmisches noch ein fotografisches Zeugnis für die Anfänge der Planungen des Welt- und des Weltanschauungskriegs. Auch von der Wannseekonferenz „zur Endlösung“, das heißt dem industrialisierten Massenmord an Juden, existieren ebenfalls schriftliche, nicht jedoch filmische Belege. Sehr wohl liegen solche sowohl von den Exzessen der Wehrmacht als auch der SS bei der Verwirklichung dieser auf hoher und höchster Ebene getroffenen Entscheidungen für Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit vor und wurden in Romms Film auch genutzt.
Sein Werk erblickte das Licht der Welt – hier ist Wolfgang Beilenhoff und Sabine Hänsgen, den Herausgebern der Berliner Ausgabe und auch Turowskaja uneingeschränkt zuzustimmen – in den wenigen Jahren des kulturpolitischen Tauwetters in der damaligen Sowjetunion. Allein in den Kinos der Sowjetunion – ins Fernsehen kam er mit zeitlicher Verspätung – sahen 20 Millionen Zuschauer den Film bereits im ersten Jahr seiner „Zulassung“. Bald verschwand er aus dem Verleih, wenngleich es seltene Ausnahmen gab. So verdanken wir unserem gelegentlichen Autor aus St. Petersburg Fedor Abakov, daß ein kleines Programmkino seiner Heimatstadt, 20 Jahre lang und Tag für Tag den ins Regal verbannten Film zeigte und niemals über Zuschauermangel zu klagen hatte.
Maja Turowskaja ist für die Schilderung und einleuchtende Erklärungen zu danken, wie der „alltägliche Faschismus“ (auch diese Übersetzung des russischen Originalbegriffs „obyknowennyj faschism“ ist möglich und wurde von den sowjetischen Filmleuten anfangs auch gewählt) auf dem Weg zum Zuschauer, die „Schrecken, Ängste , Phobien der Beamten aller Ebenen“ überwandt, „die in ihrer Gesamtheit ein gewisses kolloides flimmerndes Milieu bildeten“. Am 15. Oktober 1965 erhielt er nach Bataillen und Intrigen zwischen Fürsprechern und Gegnern des Films die Genehmigung Nr. 334/65 und damit die Starterlaubnis für Leipzig, wo das Festival am 13. November eröffnet wurde. In den sowjetischen Verleih kam der Film erst Monate später, im März 1966. Bereits auf dem Leipziger Festival, wo Romms Film die höchste Auszeichnung, die Goldene Taube für Langmetragefilme, erhielt, wurde hinter den Kulissen über die Absicht Romms gesprochen, mit seinem Streifen „Parallelen zur gegenwärtigen Politik von Staat und Partei“ zu ziehen. In diesen „Parallelen“ dürften die Ursachen für das kurze öffentliche Leben des Filmkunstwerks gelegen haben, der in der UdSSR wie in der DDR, wo er eine Lizenz für Vorführungen ursprünglich bis 1971 erhielt, bald, wenngleich mit Ausnahmen, unter Verschluß gehalten wurde. Horst Pehnert, Stellvertretender Kulturministers der DDR benannte am 14. Mai 1979 in einem Aktenvermerk die Gründe der DDR-Oberen für die Verbannung des Films aus dem öffentlichen Leben. Er listete an erster Stelle die „sehr subjektive Auffassung über den Faschismus und die faschistische Entwicklung in Deutschland durch M. Romm“ auf. Deshalb und „aufgrund der nicht genügend tiefen Darstellung der gesellschaftlichen Ursachen des Faschismus“ bestünde die Möglichkeit für den Zuschauer auch „einige äußere Erscheinungsformen, wie Aufmärsche usw. (…) vor allem im Hinblick auf äußerlich ähnliche Veranstaltungen auch unter sozialistischen Verhältnissen „fehl“-zu“interpretieren“. Das genügte.
Erst Ende Oktober 1989 wurde das Verdammungsurteil aufgehoben. Da war die Geschichte zwar über die DDR hinweggegangen, das alte Thema des gewöhnlichen Faschismus jedoch nicht überholt.
Der gewöhnliche Faschismus. Ein Werkbuch zum Film von Michail Romm. Hsg. Wolfgang Beilenhoff und Sabine Hänsgen unter Mitwirkung von Maja Turowskaja, Drehbuchautorin des Films. Verlag Vorwerk 8. Berlin. 2009. 335 S. ISBN: 978-3-940384-12-6, 24,- Euro
Schlagwörter: Gerd Kaiser, Maja Turowskaja, Michail Romm, Sabine Hänsgen, Wolfgang Beilenhoff