13. Jahrgang | Nummer 1 | 18. Januar 2010

Nötigung

von Dmitrij Kaljushnyj, Moskau

Als Andrzej Wajda im März vorigen Jahres seinen Film “Katyn” in Moskau vor tausend – meist geladenen – Gästen im “Dom Kino” vorstellte, erhob sich das Publikum nach der Aufführung zu Ehren der vom NKWD auf Geheiß Stalins gemeuchelten Polen von seinen Plätzen. Regisseur Wajda, dessen Vater zu den Opfern gehört hatte, befand später, allein schon dieser Augenblick habe seinen Film legitimiert.

Ob der Film dazu beitragen wird, stalinistische Sichten auf die sowjetische Vergangenheit Rußlands weiter zurückzudrängen, muß nach dem Lesen des untenstehenden längeren Zitats aus einem mit „Nötigung“ überschriebenen Artikel der “Literaturnaja Gazeta” vom Juli 2009, von dem wir erst jetzt Kenntnis erhielten, immer noch sehr fraglich bleiben.

Die Red.

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In der Bezeichnung des Erlasses „Über die Kommission beim Präsidenten der Rußländischen Föderation zur Abwehr von Versuchen der Geschichtsfälschung zum Nachteil der Interessen Rußlands”, sind die Worte “zum Nachteil der Interessen Rußlands” die wichtigsten. Die von außen hereingetragenen Versuche, die öffentliche Meinung im Land mit Aufrufen aufzustacheln, ein durch nichts begründetes reumütiges Bekenntnis abzulegen, gehen Hand in Hand mit der Fälschung von Tatsachen und sind zweifellos schädlich für Rußland. ( … ).

Die Katyn-Frage

Diese Geschichte begann damit, daß Deutschland, dessen Truppen unser Land überfielen und hier Millionen friedlicher Menschen ermordeten, plötzlich, 1943, in die Welt hinausposaunte, man habe einen Fund gemacht: Bei der Ortschaft Katyn, unweit von Smolensk, seien 10 000 polnischer Offiziere bestattet, die hier 1940 erschossen worden seien. Das heißt, noch bevor Deutschland einmarschierte!1 Angeblich seien 1939, nach dem Einmarsch in Polen, nach dem Anschluß der Ostgebiete dieses Landes an die UdSSR hunderttausende polnischer Kriegsgefangener in deren Hand gefallen.2 Die Polen seien in der Regel nach Hause entlassen worden, aber 10 000 Offiziere in Gefangenschaft verblieben und an einen unbekannten Ort verbracht worden.

Nunmehr, 1943 beeilten sich die humanen Faschisten die Welt davon in Kenntnis zu setzen, daß die schurkischen Sowjets diese Polen bereits 1940 ermordet hätten. Die Tschekisten hätten zuvor in Deutschland deutsche Waffen gekauft, Munition, auch Papierschnur um die Opfer zu fesseln, allein deshalb, um die Schuld auf die ehrlichen Faschisten wälzen zu können. Deren Überfall auf die UdSSR sei natürlich vorhergesehen worden.

Die unmittelbar nach der Befreiung von Smolensk vorgenommene Untersuchung ergab: In den Gräbern befanden sich die sterblichen Überreste von Polen wie auch Russen. Bei einigen der Erschossenen fand man Zahnprothesen aus belgischer und holländischer Produktion, aber woher hätten sowjetische Lagerhäftlinge denn vor Kriegsbeginn diese Prothesen nehmen sollen? 3

Es stellte sich heraus, daß sich in den Monaten April und Mai 1941, in den Lagern im Raum Smolensk, abgeurteilte sowjetische Häftlinge zum Bau von Feldflughäfen näher an die Westgrenze verlegt worden sind. Bürger des ehemaligen polnischen Staates,4 die zu diesem Zeitpunkt noch lebten, verblieben in ihrem Lager und waren beim Bau der Straße Moskau-Minsk zwischen den Kilometern 392 bis 171 eingesetzt. Es handelte sich Anfang 1941 um 7 500 bis 8 000 Männer. Als der Krieg begann, konnten sie nicht evakuiert werden, da die Deutschen den Raum Smolensk sehr schnell eroberten. Diese Geschichte ist in den Materialien des Nürnberger Prozesses festgehalten. Dort sagte ein sowjetischer Offizier, der Lagerkommandant der polnischen Offiziere aus. Er beschrieb, wie er sich erfolglos bemüht habe, Waggons für den Abtransport der Polen zu bestellen.5 Die Schuld der Deutschen war offensichtlich. Das Thema wurde nicht weiter verfolgt, und für lange Zeit hat niemand daran gerührt, auch im Westen nicht.

Eine Erschießung der Polen 1940 wäre nicht logisch gewesen. Stellen Sie sich vor, Häftlinge, eingesetzt bei Zwangsarbeiten, bauen eine Straße. Weshalb sollte man sie dann ermorden? In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß 1940 polnische Militäreinheiten bei uns aufgestellt wurden, deren Befehlshaber General Anders war.6

Später schlossen sich diese Truppen über den Iran den englischen Streitkräften an, und in der UdSSR formierte sich eine polnische Kosciuszko-Division, die auf unserer Seite kämpfte. Polnische Militärs wären für diese Truppen von Nutzen gewesen. Ihre Ermordung war für die Sowjetmacht 1940 sinnlos. Die von den Hitlerleuten Erschossenen im Jahre 1943 als Opfer der Sowjets zu erklären, war hingegen sehr sinnvoll. Nach ihrer Niederlage bei Stalingrad war es hochwichtig für sie, die Beziehungen Stalins zu seinen Verbündeten zu stören, eine Eröffnung der zweiten Front in Europa zu verhindern – deshalb setzten sie die Fälschung in die Welt.

Als Gorbatschow um die Liebe des Westens buhlte, holte er die Fälschung aus der Abstellkammer, entstaubte sie und offenbarte sie. Und dann ging es los. Nur ein Faulpelz spuckte nicht auf unser Land, das unschuldige Polen ermordet habe. Die Fußtritte sehen ungefähr so aus: Ein Autor, der sich dem Thema Katyn zuwendet, muß unausweichlich die Frage beantworten: Weshalb? Weshalb mordete Stalin Kriegsgefangene? Westliche Forscher finden keine überzeugende Antwort. Da der Stalinismus letztendlich irrational sei, solle man dann nicht auch Katyn einen unmotivierten Mord nennen? So das Niveau der “seriösen” Beurteilung der Tragödie! Eindeutige Beweise dafür gibt es nach wie vor nicht.7 Es kam sogar dazu, daß im Januar 2002 auf höchster Ebene über die Möglichkeit gesprochen wurde, Rußlands Gesetz über die Opfer politischer Repressalien auch auf die Polen anzuwenden.

Wenn die “Kommission beim Präsidenten der Rußländischen Föderation zur Abwehr von Versuchen der Geschichtsfälschung zum Nachteil der Interessen Rußlands” diesem Treiben nicht ein Ende bereitet, werden wir ständig und gegenüber allen schuldig bleiben. Und werden bereuen, bereuen und nochmals bereuen. 600 000 unserer Soldaten gaben ihr Leben für die Befreiung und Unabhängigkeit Polens. Berücksichtigt man die Verwundeten und jene, die Erfrierungen davontrugen, waren es mehr als 2 Millionen Sowjetbürger, die für Polen bluteten. Das ist nahezu die Hälfte aller Verluste unserer Armee außerhalb der Landesgrenzen während des zweiten Weltkrieges. 100 000 Polen kämpften auf deutscher Seite, und allein Gott weiß, wie viele unserer Soldaten von ihrer Hand den Tod fanden. Aber man fordert nachdrücklich von uns, Reue zeigen und dazu auch noch zahlen! Es ist höchste Zeit, das Thema Katyn endgültig zu bewerten.

Aus “Literaturnaja Gazeta”, Moskau. 15-21. Juli 2009; Übersetzung und Anmerkungen: Gerd Kaiser.

1 Am 13. April 1943 rollte eine gigantische Propagandawelle Nazideutschlands an. Ein “Amtliches Material” suggerierte, es werde mit bis zu 12 000 Toten gerechnet.

2 Die Gesamtzahl der nach dem Einmarsch der Roten Armee ab 17. September 1939 in Polen in sowjetische Hand  gefallenen polnischen Kriegsgefangenen belief sich auf 242 000 Mann. Die meisten von ihnen befanden sich in bis zu 153 Arbeitslagern. Von Spätherbst 1939 bis Mai 1940 befanden sich 14 587 Kriegsgefangene in drei Sonderlagern für Offiziere in Kosjelsk, Starobjelsk und  Ostaschkow sowie weitere 10 000 Militärs, Politiker und Beamte in Haftanstalten des NKWD. Eine geheime statistische Zusammenfassung vom Mai 1940, abgezeichnet vom Chef der „Verwaltung Kriegsgefangene und Internierte des NKWD der UdSSR“, Pjotr Soprunenko, nennt die Zahl von 4 404Personen, die aus dem Lager kriegsgefangener polnischer Offiziere in Kosjelsk an die Bezirksverwaltung des NKWD in Smolensk “überstellt” wurden. Von den Insassen der drei Sonderlager überlebten 395 Kriegsgefangene.

3 Polnische Häftlinge konnten diese Prothesen sehr wohl tragen.

4 Schon die Regierungserklärung Wjatscheslaw Molotows vom 31. Oktober 1939 hatte es nicht an Deutlichkeit fehlen lassen: “Ein einziger rascher Schlag gegen Polen, erst seitens der deutschen und dann der Roten Armee, und nichts blieb übrig von dieser häßlichen Mißgeburt des Versailler Vertrags.”

5 Diese Version der Geschichte um Katyn wurde vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal verworfen und dieser Anklagepunkt der sowjetischen Seite stillschweigend und ohne Urteilsspruch fallengelassen; ein diesbezüglicher Text ist in Nürnberg verlesen worden, der ominöse Offizier war weder anwesend, noch wurde er je identifiziert.

6 In Wirklichkeit wurden diese Einheiten aus deportierten polnischen Zivilinternierten und aus polnischen Häftlingen in Zwangsarbeiterlagern, erst  ab August 1941 unter dem Befehl des polnischen Generals Wladyslaw Anders aufgestellt, der sich noch bis Juli 1941 in NKWD-Haft befunden hatte.

7 Derzeit liegen etwa 3 000 Seiten Originaldokumente, einschließlich der namentlichen Todeslisten, zum Mord an annähernd 25 000 polnischen Offizieren, Politikern und Beamten – zum Teil als Faksimiles – vor, die jedem Interessierten zugänglich sind; siehe detaillierte Angaben zu Archiven und Publikationen bei Gerd Kaiser: Katyn. Das Staatsverbrechen – das Staatsgeheimnis, Berlin. 2003, Seiten 411 – 419 und 420 – 430.