13. Jahrgang | Nummer 1 | 18. Januar 2010

Golo Mann

von Axel Fair-Schulz, Potsdam/N.Y. (USA)

Der eigensinnige amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom erinnert uns in seinem nicht unumstrittenen Büchlein Die Kunst der Lektüre daran, daβ ernsthaftes Lesen nicht zu oberflächlichem Übereinstimmen mit dem Gelesenen noch zu ebenso oberflächlichen Ablehnen führen sollte. Wirkliches Lesen als Prozeß von Reflexion und Selbstreflexion kann uns hingegen zu neuen Einsichten leiten, wenn wir das Gelesene in erster Linie wägen und überdenken und mit dem Urteilen nicht zu vorschnell sind.

Golo Mann (1909-1994), dessen Geburtstag sich jüngst also zum hundersten Male jährte, fordert zu einem solchen Herangehen . Er war, wie die Deutsche Post AG in einer neuen Sondermarke deklariert, ein “literarischer Historiker” und ein sehr komplexer Mensch, der zur Ikone und Vereinnahmung gewiß nicht taugt. Zu tief und, nun ja, “eigensten Sinnes” sind die Spannungen und vielschichtigen Widersprüche in diesem zuerst demokratisch-sozialistischen und dann liberal-konservativen Intellektuellen, der Willy Brandts Neue Ostpolitik unterstützte und zugleich als Franco-Apologet in einigen Verruf geriet. Als zeitweiliger Redenschreiber für Franz-Josef Strauß sah er in Helmut Schmidt zeitweise wenig mehr als einen technokratischen Macher, der bei Visionen bekanntlich nach einem Arzt ruft. Natürlich war Golo Mann weder Sympathisant des Faschismus noch wirklich Anhänger erzreaktionärer Polemiken; vielmehr nutzten mit allen medienpolitischen Wassern gewaschene Spin Doctors seine Gutmütigkeit schamlos aus und spannten ihn für ihre Zwecke ein. Und obgleich Golo Mann als konservativer Intellektueller dem Staatssozialismus eines Ulbricht oder Honecker nichts abgewinnen konnte, so war ihm aber auch der arrogante Triumphialismus der Besser-Wessis zuwider, als Kohl und Co. den SED-Staat übernahmen. In einem Brief an Harry Pross moniert er über Helmut Kohl, “…wenn ich dies aufgeblasene Mondgesicht sehe, dem die Triumphe mir nichts dir nichts über den Weg laufen, so wird mir übel“. Wut über die bubenstückhafte Art der Überrumpelung der Ossis seitens der CDU-dominierten Bundesregierung brachte Golo Mann schließlich zurück zur vereinigungskritischen SPD unter Oskar Lafontaine.

In einem Brief an Hans-Martin Gauger schreibt Golo Mann „Deutschland – nach vierzig mehr oder weniger behaglichen Jahren, wird es mir wieder unheimlich: aufgeblasen und taktlos, nicht wie unter Adolf Hitler, das nicht, aber wie unter Wilhelm II. Die wiederzuvereinigende DDR wird einstweilen wie ein besiegtes Land behandelt. Daβ der wahre Zauberer des Ganzen Gorbatschow bleibt, wird in keinem Wort erwähnt; das selbstzufriedne Mondgeschicht in Bonn ist es, der gröβte Kanzler seit Bismarck. Ohne mich.“

Golo Mann war ohne Frage hochintelligent, weltvertraut und zugleich erstaunlich naiv. Doch bei all seinen Fehlurteilen blieb Golo Mann zugleich ein universal gebildeter Weltbürger. Als integre Persönlichkeit steht er Lichtjahre über dem geistigen und moralischen Niveau eines Josef Joffe, Henryk Broder oder aber Jan Fleischhauer, welche wie Golo Mann von links ins konservative Lager wanderten. Im Unterschied zu diesen war billige Effekthascherei und Posierertum Golo Manns Sache nicht. So wurde er also nicht wie Fleischhauer gezwungen-witzig in seinem neuesten Buch “… aus Versehen konservativ…”, sondern setzte sich mit Marx und dem Marxismus ernsthaft auseinander. Zwei Zitate aus Golo Manns Anfang der 70er Jahre gehaltenen Vortrag “Radikalisierung und Mitte” illustrieren Denkwege und Schlußfolgerungen dieses liberalen Konservativen. Seinen Anti-Marxismus erklärend sagte Mann: “Dabei meine ich nicht die geschichtsphilosophischen, soziologischen Gedanken von Karl Marx, die, ob sie nun orginal von ihm stammen oder von ihm nur zu besonderer Schärfe entwickelt wurden, in das allgemeine historische Denken längst eingegangen sind und nicht wiedererweckt zu werden brauchen. Ich meine den Marxismus als Kirche …” Im Kontext der polemischen Polarisierung und Radialisierung der Studentenbewegung(en) der 70er Jahre fährt Golo Mann fort: “Von ihrem Propheten haben die Marxisten … die Arroganz geerbt, die Allwissenheit, die tiefe Verachtung aller derer, die auch nur um einen Schatten anders urteilen als sie.”

Nun kann man Golo Mann hier mit Recht vorwerfen, mit solchen verallgemeinernden Formulierungen nicht genug zu differenzieren. Wer genau sind denn “die Marxisten”, welche Marx als Propheten sehen? Doch kennen wir nicht alle solche zum Teil selbsternannte Marxisten, die in der Tat den Marxismus von einer kritischen und auch selbstkritischen Herangehensweise in eine Religion verwandelten? In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es nicht wenige verbohrte Scheinradikale, die sich mit ihren ideologischen Worthülsen einem ernsthaften gesellschaftlichen Verständnis entzogen, ganz zu Schweigen von den Dogmatikern im Parteiapparat. Daher können gerade sich als kritische Marxisten sehende Leser davon profitieren, Golo Manns Einwände und Argumente zu überdenken.

Als Historiker war Golo Mann systematisch-theoretischen Betrachtungen wenig zugeneigt. Mit einer Sozial-und Strukturgeschichte im Sinne der Bielefelder Schule konnte er schwerlich etwas anfangen. Die aus dem Historizismus stammenden und von ihm meisterhaft beherrschte narrativ-erzählende Tradition verführte GM aber keineswegs zu einem preußischen oder aber auch deutsch-national verbrämten Geschichtsbild. Nicht Preußen-Deutschland, sondern der habsburgerische Vielvölkerstaat war ihm ein politisches Leitbild. Und im Gegensatz zu Henry Kissinger – dessen brutaler Machtpolitik er übrigens nichts abgewinnen konnte – lenkte Golo Mann sein Augenmerk nicht auf Metternich, sondern dessen Mitarbeiter Friedrich von Gentz, dem er auch sein erstes Buch widmete. Gentz, ein literarisch veranlagter hochgebildeter Konservativer in der Tradition von Edmund Burke, war genauso ein Auβenseiter wie Wallenstein, dem Golo Mann ebenfalls eine wunderbare Biographie widmete.

Interessierten sei hier Tilmann Lahmes Golo Mann-Biographie empfohlen. Und dort, wo Lahmes Darstellung weniger Kontext und analytische Schärfe anbietet als sich einige Leser vielleicht wünschen, füllt Urs Bitterlis nun schon einige Jahre alte Golo Mann-Biographie diese Lücke. Dies trifft beispielsweise auf die sogennante Wiedervereinigung 1990 zu, wo Bitterli nuancierter und materialreicher Manns Position(en) reflektiert.