von Martin Nicklaus
Laut der nach den Leichenbeschauern heute gültigen Diagnose war in der DDR alles schlecht, niemand durfte unaufgefordert lachen, und es regnete immer. Wer meckerte, kam, weiß Wiglaf Droste, »nach Bautzen ins Senfbergwerk«. Obgleich nach den Prinzipien des Kasernenhofes regiert, gilt sie als ein Projekt der Linken, deren Siechen zwei Symptome förderten: Mißwirtschaft (Unterpunkte Subvention und Staatsverschuldung) sowie die Stasi. Beide wurden, bei dem konsequent wirklichkeitswidrig als Wiedervereinigung gefeierten Anschluß an den Geltungsbereich des Grundgesetzes, in wundersamer Weise auf die Bundesrepublik übertragen. Genaugenommen gelangten sie in der neuen Gesellschaftsordnung, dieser Art Ersatzhimmelreich auf Erden, erst zu richtiger Blüte.
Verliefen die ostdeutschen Versuche, den Staat mittels Planwirtschaft zu ruinieren, geradezu peinlich stümperhaft, zeigten die Bundesrepublikaner, wieviel mehr Sprengkraft eine Wirtschaft, entlastet von den Zwängen der Planung, weitestgehend sich selbst überlassen, entfaltet. In diesem Zusammenhang scheint der Verzicht auf jegliches Konzept im Kampf gegen die daraus erwachsene ImmobilienBankenAuto WirtschaftAllesKrise nur konsequent.
Eine Nummer kleiner erfahren, im doppelten Sinne des Wortes, Berliner und ihre Gäste bei der S-Bahn ein fulminantes Ausmaß an Mißwirtschaft. Bisher dachte man ja, für eine Betriebsstörung, wie sie derzeit zur Aufführung kommt, wäre ein Krieg notwendig. »Ruinen schaffen ohne Waffen«, lautete die große, wenn auch inoffizielle, Losung in einer ganz dem Wohnungsbau verschriebenen DDR. Im vollständig der Mobilität gewidmeten Zeitalter gelten nun wohl alle Anstrengungen dem städtischen Nahverkehr: »Stillstand schaffen ohne Waffen.«
Was die den DDR-Staatsbankrott auslösende Subventionspolitik durch Verschuldung angeht, wird sie allein schon in der Bundeshauptstadt um ein Vielfaches überboten. Werden einerseits die Subventionen als allgemeine Ursache für das Sterben der DDR-Volkswirtschaft angesehen, kann andererseits inzwischen das Subventionieren der heutigen Wirtschaft gar nicht schnell genug gehen. Als einziges Kriterium für die Überhäufung mit Steuermitteln scheint der Nachweis von Nöten, daß es sich beim beschenkten Unternehmen um ein Faß ohne Boden handelt, in dem die Milliardenbeträge auch wirklich Platz finden und geräuschlos versickern können. Vor unseren Augen steigt, aus seinem feuchten Grab, der Sozialismus: für Banken.
Ebensolche Erweckung feiert die Stasi, deren tristes Schattendasein im Grau in Grau einer klandestinen Unterwelt sich zu einer glitzernden Showexistenz gewandelt hat. Dank ihrer schüttete sogar Hollywood Ruhm über unser Land. Märchenfilme finden bei Oscar immer besonderen Anklang, insbesondere wenn Realitätsfetzen in die Rührstücke geschickt eingeflochten sind.
Nicht zuletzt zu diesem Zweck gelangt alle Jahre wieder ein spektakulärer Stasifall auf die Bühne – dieses Jahr mit der Stasimitarbeiterschaft eines Westpolizisten, der einen linken Studenten erschoß. Komischerweise war dieser Zusammenhang selbst den erlauchtesten antikommunistischen Historikern Marke Baring, Wolffsohn oder Stürmer gänzlich entgangen – was ein erhellendes Licht auf deren Freude an der Recherche wirft. Natürlich liegt das geschichtspolitische Augenmerk mehr auf dem gerade – wegen seiner intellektuellen Schlichtheit nicht ganz unaufwendigen – Projekt der Gleichsetzung von DDR und Nazideutschland, so daß sich, unter Verzicht auf Vorwürfe wegen der Verharmlosung des Holocausts, vor den Augen des drögen Publikums Mauertote und Genozidopfer in einer großen Hekatombe deutschen Totalitarismus vereinen.
Aber wechseln wir ins Erfreuliche, denn die bundesdeutsche Demokratie verfügt über starke integrative Kräfte, wobei oft nur jene zentrifugalen im Mittelpunkt stehen, die millionenfach Menschen an den Rand drängen.
Doch gehen wir das einmal anders an: Die Demokratie verteilte bei ihrem glorreichen Einmarsch ins Ostland mit übervollen Händen das Geschenk der Freiheit, beispielsweise als Freiheit von Arbeit. Zugleich kam sie anfangs einer auf Kundgebungen oft erhobenen Forderung nach: »Stasi in die Produktion«. Dort, wo keine Produktion mehr war, weil Freiheit auch Freiheit von Produktion einschloß, mußte man die MfS-Kader halt in Amtsstuben einquartieren. So konnten 17 000 von Mielkes Angestellten – da sind wir dann bei der Demokratie Kraft – integriert werden. Wichtigste Bedingung: Sie mußten die schäbigen, schlecht sitzenden Anzüge eintauschen gegen zumindest passende. Nur allzu gern griff man bei der Brandenburger Polizei auf die Altgedienten zurück, und ein Soldat wie Schönbohm schätzt gute militärische Ausbildung: »Da weiß man, was man hat.«
Neben dem offensichtlich sehr brauchbaren Fachpersonal fand die Ästhetik des Überwachungsstaates insgesamt Eingang ins Reich des Grundgesetzes, in dem den Innenminister ständig neue Observationsobsessionen heimsuchen, die allerdings immer ein bißehen hinter dem herhinken, was die Totale Wirtschaft bereits umsetzt. Komischerweise orientiert die sich am wahrlich erfolglosesten Unterfangen der DDR, denn was tausende Spitzel verhindern sollten, trat am Ende ein.
Es ist erstaunlich, welch sonderbare Inspiration die Bundesrepublik aus dem Anschluß zog. Dazu addiert sich ein zweifelloser Gewinn, weil der politisch korrekte Bürger über ein Frustventil weit genug abseits der Wirklichkeit verfügt: die Ostalgie. Inkompetenz, Korruption, Mißwirtschaft, Überwachungswahn, Massenarmut, Kriegstreiberei stören ihn wenig, solange er über Leute herziehen kann, die Lieder und Gewohnheiten ihrer DDR-Jugend wieder entdecken, zu entsprechenden Veranstaltungen gehen, dort Broiler statt Chicken essen und Futschi schlicht Cola-Weinbrand nennen. Womit wir, für ein Jubiläum angemessen, doch noch feuchtfröhlich und mit dem Wissen enden: Nicht alles, was aufhört, ist auch wirklich tot.
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