von Gerd Kaiser
Am Vorabend des Jahrestages des deutschen Überfalls auf Polen sorgten zwei Bücher für Aufregung und Verstimmung: In Moskau und in Warschau wurden Quellen veröffentlicht, die Einblicke in die Geheimdiplomatie der Republik Polen und der UdSSR im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges gewähren. Beide Publikationen sollen, das muß nicht verwundern, die Außenpolitik des jeweiligen Staates rechtfertigen: Das Polnische Institut für Internationale Beziehungen (PISM) veröffentlichte (in Englisch) »Dokumente des Außenministeriums 1938 bis 1939«, und in Moskau stellte am 1. September der General des Auslandsnachrichtendienstes Rußlands, SWR, Lew Sozkow den Dokumentenband »Die Geheimnisse der polnischen Politik. Dokumente der Jahre 1935 bis 1945« vor.
In der polnischen Edition finden sich Aufzeichnungen über offizielle Gespräche zwischen dem Präsidenten Polens, Ignacy Mościcky, Außenminister Józef Beck mit Joachim von Ribbentrop sowie Notizen über einen Vortrag von Joseph Goebbels in Warschau; ferner sind unter anderem Geheimgespräche zwischen Ignacy Mościcky und Hermann Göring dokumentiert, die im Jagdgebiet des Urwalds von Bialowies stattfanden. Dabei hatte Göring, indem er auf den Traum polnischer Eliten von einem »Polska od morza do morza« (Polen von Meer zu Meer) abhob, vergeblich versucht, Polen für eine Zusammenarbeit mit Nazideutschland gegen Sowjetrußland zu ködern. Sowohl Marschall Józef Piłsudski als auch Außenminister Józef Beck hatten im Januar 1935 das so übermittelte Angebot Hitlers abgelehnt.
Daß führende polnische Militärs die allerdings nicht in die Gespräche einbezogen waren einem antisowjetischen Kriegszug jedoch nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden, wurde unter anderem durch eine geheime schriftliche Befragung führender Militärs und Politiker Polens durch Marschall Piłsudski deutlich.
1934 vertraten wichtige Entscheidungsträger aus Piłsudskis Umgebung folgende Vorstellungen von Polens potentiellen Gegnern Deutschland und Sowjetrußland: Außenminister Józef Beck und sein Stellvertreter Jan Graf Szembeck – Piłsudski hatte beiden gemeinsam eine Stimme zugebilligt – hielten Rußland für die nächsten vier Jahre für den wahrscheinlichsten und gefährlichsten Gegner, gegen Ende der dreißiger Jahre werde Deutschland an diesen Platz rücken. Der Nachfolger Józef Piłsudskis im Amt des Kriegsministers, General Tadeusz Kasprzycki, sah wie auch zwei weitere Generale, einer von ihnen Generalinspekteur Kazimierz Sosnkowski, Rußland und Deutschland als gleichgefährliche potentielle Gegner. Und ein weiterer General sah die größte Bedrohung Polens in umgekehrter Reihenfolge von Deutschland und Rußland ausgehen.
Zwei weitere Generale sahen Polen in Auseinandersetzungen allein mit Sowjetrußland. Doch die Mehrheit der Generalität rechnete mit Deutschland als gefährlichsten Gegner.
Wesentliche Dokumente der polnischen Quellenedition umfassen den Zeitraum vom 24. Oktober 1938 bis zum Vorabend der Aggression des Deutschen Reiches gegen Polen. Damit dokumentieren sie vor allem die Zeit zwischen Hitlers Ultimatum an Polen, mit dem er verlangte, die Freie Stadt Danzig dem Reich anzuschließen und durch den polnischen Korridor eine exterritoriale Autobahn sowie eine Eisenbahnverbindung des Reichs bis Ostpreußen zu bauen. Außerdem wurde Polen aufgefordert, dem Antikominternpakt beizutreten. Diese Vorschläge wurden von Außenminister Beck, auch im Direktgespräch mit Hitler, abgelehnt.
Der polnische Botschafter in Moskau Wacław Grzybowski sah noch am 24. August 1939, am Tag nach der Unterzeichnung des Nichtangriffsvertrages zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR, darin keine Bedrohung Polens von seiten der Sowjetunion.
Die Veröffentlichung des russischen Dokumentenbandes »Die Geheimnisse der polnischen Politik. Dokumente der Jahre 1935 bis 1945« wurde durch Fernseh- und Pressebeiträge vorbereitet, in denen bereits auszugsweise Dokumente aus dem Buch verwendet wurden. General Sozkow bezeichnete im Abendprogramm des ersten Fernsehkanals am 2. September »Polen als engsten Verbündeten Hitlers über Jahre hinweg«, ein Vorwurf, der weder durch polnische noch durch russische Dokumente bestätigt wird. Erhoben wurde er auch in einer anderen, fünfzigminütigen Fernsehsendung, die ebenfalls dem Auftritt des Generals bei der Buchpräsentation diente.
Auf der Website des russischen Auslandsnachrichtendienstes SWR wird der polnische Außenminister Józef Beck, der Hitlers Ultimatum auch im Sejm zurückgewiesen hatte, als »Agent Hitlers« bezeichnet. Das beweise ein »Geheimes Zusatzabkommen« zum Nichtangriffspakt von 1935 zwischen Polen und Deutschland, das zwei Jahre später hinzugefügt worden sei. Doch sowohl die russischen Medien als auch offizielle Stellen blieben bislang Beweise schuldig. Denn bei dem »Beweis« in der russischen Publikation handelt es sich um die Meldung einer »wichtigen« (jedoch ungenannten) polnischen Quelle. Sie habe das »Geheime Zusatzabkommen« gesehen und referierend wiedergegeben. Dieser Text ist weder ein vollständiges Originaldokument, noch enthält er einen Hinweis auf die Identität des Agenten, das Datum der Meldung und das Archiv, wo sie archiviert sein soll.
Der Moskaukorrespondent der »Gazeta Wyborcza«, Wacław Radziwinowicz, fragte während der Buchpräsentation der »Sekrety« den Sprecher des SWR, Sergej Iwanow, auf Grund welcher Quellen der polnische Außenminister bis 1939, Józef Beck, auf der offiziellen Internetseite des russischen Auslandsnachrichtendienstes SWR als deutscher Agent und der spätere polnische Regierungschef in der Emigration Stanisław Mikołaiczyk als britischer Agent bezeichnet würden. Iwanow versprach, das werde untersucht, und die Frage werde demnächst offiziell beantwortet.
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