von Heerke Hummel
Skeptiker sprechen von dahingeschmolzenen Illusionen, von Einverleibung statt eigenem neuen Anfang, von Siegern und Besiegten. Niederlage des Sozialismus und Sieg des Kapitalismus? Im zeitlichen Abstand von zwei Jahrzehnten und im Lichte globaler Prozesse scheint mir, es war eine ziemlich plötzliche, ja in dieser Art unerwartete Reform dessen, was sich Sozialismus nannte. War das aber Sozialismus gewesen? Und ist es Kapitalismus, worein es transformiert wurde? Kapitalismus, wie ihn Karl Marx ökonomisch analysierte, doch wohl kaum. Dieser Kapitalismus hatte sich während des ganzen vergangenen Jahrhunderts Schritt für Schritt zu der heutigen Gesellschaft des
21. Jahrhunderts reformiert. Wenn diese jetzige Gesellschaft noch mit den selben Begriffen betitelt, mit den gleichen Kategorien charakterisiert wird wie vor 150 Jahren, so zeigt das nur, wieviel das analytische Denken der Wirtschaftswissenschaft an Kraft und Tiefe verloren hat, wie sehr es verflacht ist. Da geht es Sozialisten kaum viel besser als Bürgerlichen. Diese, zum Beispiel Wilfried Fuhrmann von der Universität Potsdam vor kurzem auf einer Veranstaltung der Brandenburger Landeszentrale fiir politische Bildung zum Thema Finanzkrise, träumen auch angesichts weltweiter, in ihren Dimensionen bisher nicht gekannter und kaum vorstellbarer staatlicher Rettungspakete immer noch von privaterInitiative auf den Warenund Finanzmärkten der Welt. Und jene sind mit ihrem ökonomischen Denken nicht über Marx und Keynes hinausgekommen. Daß wir heute in einer ökonomisch ganz anders gestalteten, nämlich im Marxschen Sinne nachkapitalistischen Welt leben, ist ihnen unbegreiflich.
Blockdenken in Bildern von Himmelsrichtungen prägte das 20. Jahrhundert. Es vernebelte den Blick und führte zu Mißverständnissen sowohl von den eigenen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen als auch von denen auf der anderen Seite, die sich alle weitgehend hinter dem Rücken der Akteure vollzogen: Veränderungen in beiden Blöcken, wenn auch auf zwei verschiedenen Wegen, dem östlichen und dem westlichen, mit vielen Wendungen und zahlreichen Gegenbewegungen aufbeiden Flußarmen der Weltgemeinschaft. Nun ist der Strom wieder vereint. Und die da auf und mit ihm schwimmen, glauben immer noch, in demselben alten Flusse entweder sich zu baden oder bis zum Halse im Wasser zu stehen. Daß er inzwischen viel breiter und tiefer geworden ist, gefahrvollere Klippen passiert, darum weitgehend auch kanalisiert und reguliert wurde (wenn auch längst nicht genügend); daß er, was Wirtschaft und Finanzsystem anbelangt, statt klaren Wassers eine kaum noch zu durchschauende trübe Brühe mit oft »toxischen« Inhaltsstoffen führt, sollte doch nicht nur zu denken geben, sondern muß endlich begriffen werden, daß wir uns auf einem ganz neuen Gewässer befinden! Der Osten und der Westen sind in einer anderen Gesellschaft angekommen, in einer Gesellschaft mit nicht nur neuartigen Produktions-, Kommunikations- und sonstigen Techniken, sondern auch mit einer neuartigen Ökonomik und einer weitgehenden Virtualisierung. Ich bezeichne sie als eine Finanzgesellschaft, deren Wirtschaft durch das Finanzsystem gesteuert wird – derzeit allerdings sehr destruktiv, weil sie für eine private Angelegenheit gehalten und als solche zur Wirkung gebracht wird.
Das akute Problem der heutigen Gesellschaft in ökonomischer Hinsicht ist: Ihre »Eliten« und deren Lautsprecher glauben noch immer an den privaten Charakter von Wirtschaft und Finanzen, sehen und verstehen nicht, daß Unternehmens- wie Bankmanager durch die Entwicklung des Geld- und Finanzsystems längst zu »Handelnden im Auftrag der Gesellschaft« mit ganz bestimmten Rechten, Pflichten und Kompetenzen geworden sind, und haben bisher darauf verzichtet, ihren geistig-politischen (vor allem den juristischen) Überbau der ökonomischen Basis der Gesellschaft anzupassen – mit einer speziellen Wirtschafts- und Finanzverfassung. Mit den dazu erforderlichen Reformen würde nicht eine zentrale Planungsbürokratie wieder hergestellt werden. Die zu erwartenden Veränderungen werden in der Hauptsache das internationale Finanzsystem schrittweise in ein weltweites gesellschaftliches Steuerungssystem für die globalen ökonomischen Prozesse verwandeln und auf diese Weise gewährleisten, daß notwendigerweise dezentralisiertes Wirtschaften – als »Marktwirtschaft« nicht selten fälschlicherweise mit »Kapitalismus« gleichgesetzt – in geregelten, gesellschaftlich und ökologisch verträglichen Bahnen, also letztlich im Interesse aller verläuft.
Eine Utopie? Nein, eine politische als auch eine ökonomisch-ökologische Notwendigkeit.
Siehe dazu auch: Heerke Hummel: Gesellschaft im Irrgarten, Nora-Verlag Berlin 2009, ISBN 978-3-86557-201-1, 143 Seiten, 14,90 Euro
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