Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 14. September 2009, Heft 19

Bemerkungen

Schwindel frei

In den Zeiten des Wahlkampfes fallen Journalisten, Wissenschaftler und andere Leute mit und ohne Allgemeinbildung über die Versprechungen wahlkampfender Politiker her, die sie des Schwindelns bezichtigen. Sie gebärden sich, als ob an den Lügen von Politikern eo ipso etwas Verwerfliches wäre, und tragen so zu deren Ansehensverlust bei. Eine Zeitung veröffentlicht ein Foto des gesamten Kabinetts und schreibt darunter:
»Der große Rentenschwindel«, macht im weiteren Text die Rentengarantie als »Wahlkampfgetöse, Schwindel« madig und diffamiert so die ganze Regierung. Das Versprechen der Kanzlerin, die Mehrwertsteuer werde nicht erhöht, wird überall wegen Unglaubwürdigkeit abfällig kritisiert. Nicht anders ergeht es dem Versprechen des Vizekanzlers mit der Vollbeschäftigung. Und alle, die Steuersenkungen zusagen, werden unehrenhaft besprochen. Nahezu die gesamte Politikerkaste wird als Verein von Schwindlern verunglimpft. Um Wahlkämpfer zu reiner Wahrheit zu bekehren, schlägt ein mit dem Thema überforderter Professor vor, daß Politiker, die ihre Wahlversprechen nicht halten, sich nicht zur Wiederwahl stellen dürfen.
Das ist an Torheit nicht zu überbieten, und es ist sehr zu bedauern, wie wenig viele Bürger die Lügen der Politiker zu schätzen wissen.
Ihre Aufmerksamkeit sei deshalb auf Niccolo Machiavelli gelenkt. In seinem berühmten Buch Il principe schreibt er im 18. Kapitel unter der Überschrift »Auf welche Weise Fürsten ihr Wort halten müssen«: »Doch die Erfahrung unserer Zeit zeigt, daß gerade diese Fürsten große Dinge vollbracht haben, die auf Treue wenig gegeben haben und die Menschen mit List betört haben. Sie haben schließlich diejenigen überwältigt, deren Richtschnur die Ehrlichkeit war. Ihr müßt wissen, daß es zwei Arten des Kampfes gibt, eine durch Gesetze, eine durch Gewalt. Die erste gehört zum Menschen, die zweite zum Tier. Deshalb muß ein Fürst verstehen, menschliches wie tierisches Verhalten anzuwenden. … Deshalb kann und darf ein kluger Fürst sein Wort nicht halten, wenn es ihm schaden würde …«
Fazit: Daß Politiker lügen, kann pflichtgemäßes, lobenswertes Handeln sein. Erst wenn sie auch damit nichts Gescheites zustandebringen, darf die Mißbilligung einsetzen.

Günter Krone

Medien-Mosaik

Zu den großen Liebespaaren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts zählen Claire und Wölfchen, die beiden 2ljährigen, die 1911 gemeinsam nach Rheinsberg fuhren. Von Wölfchen weiß man, daß es Kurt Tucholskys alter ego gewesen ist. Und Claire? Die Medizinstudentin Else Weil war Tucholskys Freundin (der doch damals noch mit einer anderen verlobt war). Erst nach dem Krieg heirateten beide, und nicht für lange. Tucholsky war für eine Ehe nicht geschaffen. Von Else Weil-Tucholsky ist wenig bekannt, denn die Nazis haben es fast geschafft, sowohl die Menschen als auch die Erinnerung an sie auszulöschen. Doch man kann immer noch Spuren finden.
Für den Band 67 der verdienstvollen Reihe »Jüdische Miniaturen« hat sich nun Sunhild Pflug in die Spur begeben, und Lebenszeugnisse der Dr. med. Else Weil, die zeitweilig Tucholsky hieß, zusammengetragen. Die Ärztin, die 1917 zu den nur 90 Frauen gezählt hatte, die in Deutschland erfolgreich approbiert worden waren, war vor den Nazis nach Frankreich geflohen und letztlich doch gefaßt worden, um in Auschwitz ein brutales Ende zu finden. In Sunhild Pflugs Bändchen entsteht das Porträt einer ebenso charakterstarken wie eigenwilligen Frau, das sie mit verschollenen Aufzeichnungen und bislang übersehenen Zeugenaussagen zusammenstellen konnte. Auch die wenigen Fotos, die es von ihr gibt, haben Eingang in den Band gefunden, der für den Tucholsky-Freund wie auch für den zeitgeschichtlich interessieren Leser eine Bereicherung ist.

Sunhild Pflug: Dr. med. Else Weil. Auf den Spuren von Kurt Tucholskys Claire aus »Rheinsberg«. Mit 17 Abbildungen. Teetz, Berlin. Hentrich & Hentrich 2008, 63 Seiten, 5,90 Euro

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Ein Medium für sich sind Ansichtskarten. Sie geben dem Empfänger einen Eindruck von der Umgebung, in der sich der Absender befindet. In der Nachbetrachtung ermöglichen sie einen Blick in vergangene Welten. Jürgen Hartwig, sonst auf dem Gebiet der Karikaturenforschung aktiv, hat einen kurzweiligen Band mit 777 Postkarten aus der DDR zusammengestellt und launig kommentiert. Von Neujahr bis Weihnachten und Silvester durchmißt er ein Jahr (und hat natürlich Abbildungen aus nahezu 40 Jahren DDR dabei). Volksfeste, Gaststätten, Straßen und Landschaften, Denkmäler (von denen einige wohl inzwischen »entsorgt« wurden), Arbeiter, Sänger, Sportler und Politiker, Tiere (selbst die Mickymaus hatte sich in der DDR versteckt), auch markante Werbeflächen und öde Hotelzimmer findet man wieder – kein Aspekt des DDR-Alltags scheint zu fehlen. Was für übersichtliche Regale hatten doch damals die Kaufhallen! Schade, daß nur ein Kinobau zu entdecken ist. Hier läuft der Film »Optimistische Tragödie«, vielleicht ein passender Kommentar zur verflossenen Republik …

Jürgen Hartwig (Hg.) Grüße aus der DDR 777 Postkarten, Eulenspiegel Verlag Berlin 2009, 19,90 Euro

bebe

Deutsche Lebensläufe

Zwanzig Jahre liegen das Ende der DDR und die Wiedervereinigung der Deutschen nun bereits zurück. Bücher zu diesem Themenkomplex füllen derweil ganze Regalwände, darunter reichlich eitle, eifernde, rechtfertigende oder besserwisserische. Und so ist es eine eigentlich traurige Tatsache, daß Bücher noch immer Seltenheitswert haben, die den Versuch unternehmen, den jeweils anderen Deutschen mit seiner so anderen Biographie vorurteilslos anzunehmen, erkunden und begreifen zu wollen. Margot Bischof und J. Michael Heveling-Fischell haben ein solches Buch vorgelegt. In ihm gehen die in Essen beheimatete Pädagogin und der Bonner Sozialwissenschaftler den Lebensläufen von fünf Menschen nach, die – dereinst in der DDR-Akademie für Gesellschaftswissenschaften und im Parteiarchiv tätig – ihre Hoffnungen und Träume einst mit der DDR verbanden und miterleben mußten, wie diese Illusionen nach und nach platzten, dabei Trauer und Leere ebenso hinterlassend wie auch Befreiung von ideologischen Zwängen und dem oftmaligen Doppelleben einer immer verunsicherteren Innerlichkeit und dem abverlangten Gebaren nach außen. Reales DDR-Leben also, das in dieser Form sehr viel typischer für Lebenswege östlich der Elbe als – bei allem Respekt – widerständige Opposition. Bischof und Heveling-Fischells Texte präjudizieren und werten nicht.
Sie vermitteln Lebensläufe so, wie ihre Gesprächspartner sie erzählen und beurteilen. Das macht Nachvollziehbarkeit am ehesten möglich, sofern man daran eben interessiert ist. Das dürfte nach Lage der Dinge vor allem ein Angebot an Leser im Westen unseres Landes sein, dessen Annahme dem Buch dort reichlich zu wünschen wäre. Spätestens die Aufnahme zweier westdeutscher Lebenswege samt der auch ihnen innewohnenden biographischen Krisen quasi als ebenso andersartigen wie vergleichbaren Gegenhorizont sowie ein abschließender Essay über »Formung, Krise und Wiederaneignung von Sinn und Handlungskompetenz in der eigenen Biographie« macht den Band aber auch in den neuen Bundesländern allemal lesens- und deshalb empfehlenswert.

Margot Bischof, J. Michael Heveling- Fischell: Fremd werden im eigenen Land. Biographische Spuren und Wandlungen in Deutschland, Free Pen Verlag Bonn, 222 Seiten, 24,90 Euro

Horst Jakob

Laßt die Sau zu Hause!

Natürlich lieben wir sie alle – die vielen Touristen, die brav ihr Scherflein geben, auf daß Berlin nicht total in der materiellen Misere versinke. Wir lehnen es wirklich nicht ab, Weltstadt sein; jedenfalls geben wir jedem Fremden freudig Auskunft, wo der Weg zum nächsten Club, Puff oder Museum abgeht.
Wir zeigen auch Herz statt Schnauze, wenn wir die ganze Feriensaison in öffentlichen Verkehrsmitteln schweigend, jawohl schweigend! ertragen, daß die braven Touristen, die mehrheitlich in großen Verklumpungen auftreten, unsere Alltagsverrichtungen behindern.
Sollte ein Berliner tatsächlich mal keine Antwort geben, dann hat er keine! Wobei es sich in diesem Fall nur um Verkehrsfragen handeln kann. Auch er ist damit alleingelassen in der Weltstadt Berlin: Nicht mal das Internet kann ihm erklären, wo der Bus vom Schienenersatzverkehr hält, wohin seine Bushaltestelle während der Tiefbauarbeiten verschwunden ist oder ob die S-Bahn überhaupt noch bis Erkner fahrt. Also schon ohne Touristen ist der Alltag des Berliners kein leichter. Und hat er dann noch das Pech und wohnt im Zentrum, in einem Szenebezirk oder um die Ecke vom angesagtesten Club Europas (ja doch, Europas!), dann tritt er von Freitag- bis Montagmorgen beim Verlassen seines Hauses regelmäßig in Flaschenscherben. Im vorigen Jahr standen die leeren Flaschen noch an der Bordsteinkante oder vor den Kellerfenstern. Das hatte auch einen schönen sozialen Aspekt, da die meisten Teile Pfandflaschen waren.
So konnte man schon früh am Sonntagmorgen eine Schlange von Männern mit großen Säcken vor dem Flaschenautomaten im Ostbahnhof sehen. Diese kleine Quelle des Nebenerwerbs ist nun versiegt, da es in Mode gekommen ist, geleerte Flaschen dort zu zerdreschen, wo man den letzten Tropfen genommen hat. Auf der Straße. Was der junge Tourist in seinem Wolverhampton, Casore del Monte oder Gröditz natürlich nicht tut, nicht tun kann bei Strafe des Gesichtsverlusts. Aber hier ist Weltstadt, hier kann man die Sau rauslassen, dem niemand kennt den Stall. Außerdem ist nächste Woche eh alles vorbei und vergessen. Irrtum, liebe Touristen. Wir sammeln die Scherben ein und ärgern uns von Woche zu Woche mehr. Sind wir hier vielleicht die angesagteste Müllkippe Europas?
Wir wollen Euch doch alle lieben …

Julia Michelis

Erschröckliche Geschichte

In einer der bunten Zeitschriften, die allwöchentlich die Regale der Zeitungskioske füllen, fand sich jüngst als Aufmacher: »Wolfgang Stumph spricht zum ersten Mal über seine furchtbaren Erlebnisse – nicht zu übersehen – Ein Pater wollte ihn mit Schlägen gefügig machen.« Natürlich ging es um Lebenszeit in der unaussprechlichen Republik, und selbstverständlich sollte hier Drangsal unter kommunistischer Knute gegeißelt werden.
Nachdem dem Leser auf diese Weise der Mund wäßrig gemacht worden war, folgte der Verweis auf die hintersten Seiten des Blattes. Und da kam es dann knüppeldick. »Zum ersten Mal erzählt der Schauspieler, was ihm auf der Suche nach einer Vaterfigur passierte und welche Folgen das für sein Leben hatte.«
Als Einzelkind und ohne Vater aufgewachsen, suchte er die bewußte Vaterfigur. Lassen wir ihn höchstselbst zu Wort kommen: »Ganz am Anfang war es noch der Pater. Ich war Ministrant. Doch meine Hinwendung hat sich schnell gelegt, als ich von ihm an den Haaren gezogen wurde, und er mich mit der Kordel schlug. Nur weil ich etwas nicht gelernt habe. Das hat mir gereicht. Ich hatte keinen Vater, der mich schlägt und dann wollte ich auch keinen Pater, der mir ein paar hinter die Ohren gibt.« Das war schon alles! Wie wäre es mit einer Fortsetzungsgeschichte, in der noch weitere furchtbare Erlebnisse preisgegeben werden?
Und – welche Lehren sind aus diesem zum Himmel schreienden traumatischen Erlebnis unter freilich kommunistischer Willkür zu ziehen? Der hochdeutsch nur annähernd als Fremdsprache beherrschende Mime … »will aufzeigen, daß man mit Souveränität und mit einer Heiterkeit Geschichte bewältigen kann. Die Dämonen unserer jüngsten Vergangenheit sozusagen lachend bewältigt.« Eine Absonderung solchen Schwachsinns sollte nun doch verboten sein.

Lotar Cibis

Trümmerland

In einem dunklen Wald, erstes Licht bricht durch die Blätter, ein Mädchen, ein Dorf betretend. Schmutzige Zöpfe, starre Augen, ein dünnes Kleidchen am Leib, mehrere Schichten Socken über den Füßen, keine Schuhe.
Am Ortseingang – niemand, weiße Fassaden, dichte Dächer, blühende Blumen, alle Steine aufeinander, alles anders als eben noch. Die steinernen Gesichtszüge lockern sich. Menschen – einzeln, nicht mehr in der Masse, jeder für sich – alles neu, alles glänzend: Was ist hier los, sind die denn schon fertig?
Fragen, ohne Sprache, keine Antwort. Sie betritt ein kleines Geschäft, eine dicke ältere Frau im Kittel hinter der Theke, schaut, fragt: »Was kann ich für dich tun? Brauchst du was?« Das Mädchen schaut sich um, alles vorhanden, alles – viel – mehr – anders, brauche ich etwas?
Verwunderung über diese gut genährten Menschen, von jetzt auf gleich: »Brauchst du Hilfe?« Keine Antwort, sie schaut, alles bunt verpackt, leuchtender Schein, die Augen überflutet.
Die wird unruhig, fangt sich aber wieder: »Hmm, ich kenne dich – irgendwie.«
»Ja.«

Paul

Wirsing

Die Sensation: CDU und DIE LINKE bilden erstmals gemeinsam eine Landesregierung! Allenthalben verkünden Journalisten und Politiker, in Thüringen stünde eine »Große Koalition« ins Haus. Und die beiden großen thüringer Parteien sind nun mal die CDU und DIE LINKE, Die denken allerdings nicht im mindesten an eine Vereinigung, nicht einmal auf Zeit. Journalisten gewöhnen sich nur langsam daran, daß sich die SPD von der Volks- zur Splitterpartei entwickelt.
Und perspektivisch kann schon mal über große Koalitionen zwischen der Linken und der FDP nachgedacht werden. Nichts scheint unmöglich!

Fabian Ärmel