von Reinard Stöckel
Auf dem Friedhof von Tarragona steht ein Kreuz aus rostrotem Eisen; eine der Schweißnähte ist gebrochen. Der linke Arm hängt herab und wird nur noch von einer Drahtschlaufe gehalten. Eine gelbe Rose in der Mitte des Kreuzes blüht unverdrossen fort, sie ist aus Kunststoff und das einzige Zeichen von postumer Zuwendung an dem Dutzend elender Grabmahle. Eine mannshohe Mauer und ein Eisentor separieren hier Mörder und Selbstmörder, wie zu vermuten ist, von den anderen Begräbnisstätten. Mir fehlen die Sprachkenntnisse, um zu erfragen, wie solch ein Ort in Spanien genannt wird. In Deutschland hießen sie früher Arme-Sünder-Friedhof oder Schandacker. Der hier zu Schanden wurde, war ein Deutscher: Georg Michael Welzel, 11.4.1944 – 2.3.1974.
Der Friedhofswärter dreht mir diskret den Rücken zu. Doch ich bin »nicht verwandt und nicht verschwägert« mit dem, der da liegt. Mehr als Pietät oder gar Mitleid spüre ich fast körperlich einen Fluchtreflex. Nein, ich will DAMIT nichts zu tun haben: nicht mit Mördern, nicht mit Henkern.
Welzel starb am selben Tag wie der Spanier Salvador Puig Antich. Beide waren beschuldigt, einen Polizisten erschossen zu haben: Der eine, Welzel, im Dezember 1972. Der andere, Antich, im September des folgenden Jahres. Beide wurden zum Tode verurteilt, konnten aber zu der Zeit auf eine Begnadigung durch den greisen Franco hoffen. Doch als im Dezember 1973 der designierte Franco-Nachfolger Carrero Blanco bei einem Bombenattentat ums Leben kam, schlug das System noch einmal voller Härte zu.
Während damals in vielen Städten Europas Menschen für Salvador Puig Antich auf die Straße gingen und heute ein Film über ihn (»Salvador«, 2005) das Bild eines antifranqistischen Freiheitskämpfers zeichnet, ist Welzel der Barabbas, dessen Freilassung niemand forderte, nicht mal er selbst.
»Er verabschiedet sich von den Gefängnisbeamten und bat sie um Verzeihung, falls er ihnen Unannehmlichkeiten gemacht haben solle …«, so ein Priester über Welzels letzte Stunde. Die in Barcelona lebende deutsche Journalistin Dorothea Massmann bearbeitete den Fall 2006 für ein Feature des SWR. Sie knüpfte dabei an die Recherchen ihres spanischen Kollegen Rau1 Riebenbauer an. Gemeinsam mit dem Filmemacher Juan Dolce gab er »El Polaco« seinen wahren Namen und seine Biographie zurück:
Welzel wird gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in Cottbus geboren, sein aus sowjetischer Gefangenschaft heimgekehrter Vater verläßt 1948 die Familie und geht nach Westberlin. Georg lebt mit seiner Mutter und zwei Geschwistern in Cottbus. Die überforderte Mutter gibt die Kinder für zwei Jahre in ein katholisches Kinderheim. Georg lernt – ungern – Lokschlosser, wird zeitig Vater und heiratet. Später versucht er mehrmals, die DDR zu verlassen, will, so äußert er der Mutter gegenüber, unbedingt den Vater suchen. Seine eigenen Kinder, verspricht er, will er später nachholen. »Er träumt vom Reisen. Vom leichten Leben und vom schnellen Geld im Westen.« (Massmann). Doch jedes Mal wird Welzel erwischt und landet im Gefängnis. Beim dritten Aufenthalt im Cottbuser Gefängnis versucht er, sich das Leben zu nehmen. Endlich 1972 die ersehnte Freiheit, Gefangenenaustausch heißt es hier, Freikauf dort.
»Liebste Mutti«, schreibt er in einem seiner Briefe, »hätte nie gedacht, daß ich so schnell in die Welt hinauskomme!« In Oberhausen, im Stahlrevier, wo er anfangs lebt, hält es ihn nicht lange. Belgien, Österreich, Italien, Frankreich, so wird man später rekonstruieren, lauten die Stationen seines Weges. Es ist die schiefe Bahn eines Vagabunden und Diebes.
Am 16. Dezember 1972 taucht Welzel in der Bar eines Campingplatzes an der spanischen Mittelmeerküste südlich von Tarragona auf. Er trägt ein Jagdgewehr bei sich, trinkt, allein mit einer Angestellten, einen Kaffee. Als der Polizist Antonio Torralbo Moral bei seiner Routinestreife die Bar betritt, schießt Welzel. Der 26jährige Angehörige der Guardia Civil ist sofort tot.
Am anderen Morgen wird Welzel verhaftet. Widerstandslos läßt er sich festnehmen, ein offensichtlich gefälschter Paß nennt den Namen Heinz Ches; es sind Vorname seines Vaters und der Mädchenname seiner Mutter. Über die , Motive seiner Tat kann er keine Auskunft geben. Bis zuletzt beharrt er darauf polnischer Staatsbürger und ohne Familie zu sein. Den Behörden, seinem Anwalt, dem Pfarrer, seinen Mitgefangenen gegenüber verschweigt er seine wahre Identität und seine Flucht aus der DDR. Dabei hätte dies Franco, Gaudillo von Gottes Gnaden, möglicherweise doch noch dazu bewegen können, Welzel Gnade zu erweisen.
Welzels Geschwister und seine beiden Kinder erfahren erst dreißig Jahre später durch Riebenbauers Recherchen vom Schicksal des Bruders und Vaters. Sie vermuten hinter dem Festhalten Welzels an seiner Legende, er habe sie vor den Nachstellungen der Stasi schützen wollen. Riebenbauer gab seinem Buch den bezeichneten Titel »El silencio de Georg« – Georgs Schweigen.
In Schweigen hüllten sich seinerzeit allerdings auch die spanischen Ermittlungsbehörden, obwohl ihnen eine Anfrage bei Interpol den tatsächlichen Namen ihres Delinquenten geliefert hatte. Doch ein Todesurteil gegen einen Deutschen hätte möglicherweise diplomatische Verwicklungen mit der Bundesrepublik zur Folge gehabt. Ein polnischer Herumtreiber ließ sich da leichter aburteilen.
Antich und Welzel wurden am 2. März 1974 durch ein Würgeeisen, die Garotte, hingerichtet. Es waren dies nicht die letzten Todesurteile in Spanien, doch die letzten, die auf solch archaische Weise vollstreckt wurden. Welzels Henker benutzt dieses Gerät zum ersten Mal. Welzels Hals ist zu schmal, der Henker wickelte Stoffetzen um das Eisen. Ein Balken oder Pfahl fehlt, um der Garotte als Widerstand zu dienen. Welzels Hinrichtung dauert zwanzig Minuten.
Was war dieser Welzel? Kriminell, schizophren, freiheitsdurstig? Ein Gernegroß in Cowboystiefeln, der über die eigenen Füße stolperte? Ein Selbstmörder, der sich nicht des Strickes, sondern eines Staates bediente? Eine Zeugin beschrieb ihn als »angenehme Erscheinung«; ein Zeitungsredakteur sah sich deshalb veranlaßt, Welzels Foto mittels Filzstift in ein struppiges Verbrechergesicht zu verwandeln. Welzels Anwalt nannte ihn »eine verlorene Seele«.
Piug Antichs Tod vermittelt, nicht zuletzt durch den Film, einen Sinn: die Idee von Freiheit und Gerechtigkeit. Ja, sogar das Kainsmal des Terroristen erscheint durch den politischen Gebrauch der Justiz und die Grausamkeit der Strafe ausgelöscht. Nicht nur seine Familie legt bis heute an einer Stele auf dem Friedhof in Barcelona Blumen nieder und kämpft um seine juristische Rehabilitierung.
Das Scheitern des anderen dagegen verweigert jeglichen Sinn. Wer ihn in Welzels Geschichte sucht, findet zwar psychologische Gründe für sein Handeln und für seinen Tod politische Motive, doch die Rätsel bleiben. Ohne die barbarischen und politischen Umstände seines Todes wäre Welzel bis heute ein Barabbas mit namenloser Grabstelle auf dem »Schandacker« von Tarragona. In seiner Absurdität könnte dieses Schicksal jedoch schon wieder Gleichnis sein. Doch wer will sich damit abfinden?
Dorothea Massmann: Das wird ein Wiedersehen werden (Manuskript des Features auf http://www.swr.de/swr2/service/audio-on-demand/-/id=661264/nid=661264/did=1796644/kjrr4v/index.html)
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