von Bernhard Romeike
Der berühmte, inzwischen 92 Jahre alte Historiker Eric Hobsbawm wurde jüngst zur derzeitigen Weltwirtschaftskrise und ihren Folgen befragt. Ob er nun das Ende des Kapitalismus erleben werde? »Nein, ich glaube nicht«, antwortete Hobsbawm, »Als Historiker weiß ich aber, daß es keine Dauerlösungen gibt. Auch der Kapitalismus, egal, wie zäh er ist und wie sehr er auch in den Köpfen der Menschen als etwas Unabänderliches erscheint, er wird verschwinden, früher oder später.« Dann verwies er auf die Weltwirtschaftskrise, die Große Depression Anfang der dreißiger Jahre, die er als junger Mensch erlebt hatte, und betonte, der 15. September 2008, der Tag, an dem die Lehman-Bank zusammenbrach, werde die Geschichte mehr verändern als der 11. September 2001, als die Türme des World Trade Centers zusammenbrachen.
Vor dem Hintergrund der Großen Depression sei es unfaßbar, daß »die Ideologen der entfesselten Marktwirtschaft, deren Vorgänger schon einmal so eine fürchterliche Katastrophe, also Armut, Elend, Arbeitslosigkeit, letztlich auch den Weltkrieg mitverursacht haben, in den späten Siebzigern, den achtziger, neunziger Jahren … wieder das Sagen haben konnten«. Einen der Gründe dafür sieht er in dem unglaublich kurzen Gedächtnis der Menschen. »Wir Historiker schreiben die Verbrechen und den Wahnsinn der Menschheit auf … Aber fast nichts wird aus der Geschichte gelernt. Das rächt sich nun. In den letzten 30,40 Jahren wurde eine rationale Analyse des Kapitalismus systematisch verweigert.« Er hätte auch sagen können: von interessierter Seite unterbunden. Die Aussage ist jedoch auch so klar genug. Auf den Hinweis, es gäbe doch jede Menge Wirtschaftswissenschaftler und Experten, entgegnete er, das seien »vor allem Theologen des Marktes mit einem kindlichkindischen Glauben, daß der Markt alles von allein regeln wird. Sie verschließen die Augen vor der Wirklichkeit, das macht sie so gefährlich für die Menschheit.«
Vor diesem Hintergrund betonte Hobsbawm, weder Obama noch Merkel wüßten in der Krise, was sie tun. Die Politiker eilen »aufgeschreckt wie Krankenschwestern … ans Bett des Kapitalismus und tun so, als ob sie etwas täten «. Noch schlimmer: »Wie ein blinder Mann, der durch ein Labyrinth zu gehen versucht, klopfen sie mit verschiedenen Stöcken die Wände ab, ganz verzweifelt, und sie hoffen, daß sie so irgendwann den Ausgang finden.« Am Ende jedoch werde »Blut fließen, viel Blut«, und es werde auf einen großen Krieg zwischen den USA und China hinauslaufen.
Dieses Hobsbawm-Interview war zu lesen im stern (Nr. 20/2009). Es ist für sich genommen schon wichtig genug. Interessant aber auch die Kommentare. Der stern hatte den Beitrag auf seiner Webseite für Kommentare geöffnet, und die kamen dann auch, in der einschlägigen Art und Weise. Einige hielten das für zu pessimistisch. Die Hobsbawmschen Aussagen werden auf die Ebene des Meinens gezogen, die immer willkürlich und jeder Bekundung (»Die Erde ist eine Scheibe«) zugänglich ist. Einer schlägt vor, sich lieber »an die Daueroptimisten« zu halten wie Ackermann, Merkel und Guttenberg.
Der nächste nörgelt: »Das soll einer der wichtigsten Historiker der Neuzeit sein? Doch wohl eher ein Untergangsprophet.« Die erste Frage hatte der Beiträger nicht gestellt, wenn er auch nur eines der Bücher von Hobsbawm gelesen hätte. Auch hier wieder die Freiheit des Meinens, ungetrübt von Sachkenntnis. Und weiter: »Als Historiker sollte er wissen, daß es ›das System‹ nicht gibt« – Wieso sollte er? –, »sondern nur Menschen, die versuchen, Systemen einen bestimmten Stempel aufzudrücken … Entscheidender als ›die Systemfrage‹ wird in der Zukunft sein, wer sich rascher mit den Fakten arrangiert und die richtigen Schlüsse daraus zieht.« Wie arrangiere ich mich denn mit dem Untergang der jetzigen Verhältnisse und dem kommenden Weltkrieg?
So zeigt sich, daß die Verdrängung der möglichen oder wahrscheinlichen Konsequenzen der derzeitigen Krise ein Moment der Spielräume der Herrschenden ist, oder mit den Worten Hobsbawms: der Krankenschwester am Bett des Kapitalismus. In diesem Sinne stöhnte schließlich jemand: »Dieses Interview ist einfach nur nervtötend. Ein alter Herr, der sich den Kommunismus zurückwünscht – mehr nicht!« Dem widerspricht der nächste Kommentator: Wenn Hobsbawm sich den Kommunismus so sehr gewünscht hätte, wäre er ja damals rübergemacht. Vielmehr gehe es ihm ja gar »nicht um die Wirklichkeit, sondern um die feuilletonistische Perpetuierung von Ideen, also das niemals versiegende ›Geschwätz über Ethik‹, von dem Ludwig Wittgenstein schon vor einem Jahrhundert gehofft hat, es möge aufhören.«
Das beste Mittel gegen Gesellschaftskrise und Krieg ist, den Kopf in den Sand zu stecken und zu warten, bis das alles aufhört. Noch beruhigender, wenn man dafür ein passendes philosophisches Zitat findet.
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