Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 3. August 2009, Heft 16

Schwarze Schafe?

von Axel Fair-Schulz, Potsdam, NY, USA

Blättchen/Weltbühne-Lesern wird der Name Kuczynski wohlvertraut sein, denn drei Generationen dieser prominenten Familie linksintellektueller und marxistischer Gelehrter haben in diesem Blatt über alle Wirrnisse und Irrnisse des 20. Jahrhunderts hinweg publiziert.
Nun hat der mit qualitätsorientierter wissenschaftlicher Literatur und auch Belletristik sich zunehmend einen guten Namen machende Berliner trafo Verlag eine gut lesbare und zugleich anspruchsvolle Studie zu denjenigen Vorfahren und Verwandten der Kuczynskis herausgebracht, die Vielschreiber Jürgen Kuczynski etwas schablonenhaft als die »schwarzen Schafe« darstellte. Schwarze Schafe waren sie vor allem für Jürgen Kuczynski, weil sie aus der radikal linksliberalen sowie später kommunistischen Familientradition herausfielen, zu »Millionären herunterkamen« und sich weder wissenschaftlich, literarisch noch künstlerisch distinguierten.
Der Autor Hans Hinrich Lembke ist Professor für Betriebswirtschaft an der Technischen Hochschule Brandenburg und beschäftigt sich schon seit geraumer Zeit mit Unternehmergeschichte. Er stellt Kuczynskis Wertung in Frage und findet unter dessen Unternehmervorfahren erstaunlich innovative, findige und risikobereite Menschen, deren Schicksal fallübergreifend nicht nur Aufstieg und Niedergang der Berliner Privatbanken illustriert, sondern auch ein Stück deutsch-jüdischer Geschichte personifiziert. »Die Schwarzen Schafe bei den Gradenwitz und Kuczynski« verbindet in gelungener Art, was Lembke bereits zu Beginn seines Buches programmatisch thematisiert: historische Familienforschung, Unternehmerbiographie und Unternehmensgeschichte mit chronologischer Betonung der Jahre zwischen 1840 und 1940.
Die plausibel dargestellten theoretischen Überlegungen gehen einher mit einem äußerst interessanten Exkurs über Betriebsgeschichte in der DDR, wie sie unter anderem vom Nestor der ostdeutschen Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski und seinem Institut für Wirtschaftsgeschichte betrieben wurde. Lembke zeigt auf, wie gerade in den Anfangsjahren die DDR-Betriebsgeschichte methodisch und auch inhaltlich neue Wege zu gehen suchte, während die westdeutsche Unternehmensgeschichte oft hagiographisch auf Eigentümer und Management verengte »Aufbauleistung und Sozialverpflichtung« überzeichnete. Hans Lembke skizziert kurz: »Der Anspruch der Betriebsgeschichte in der DDR war hoch und die Gefahr ihres Scheiterns real.«
Jürgen Kuczynski selbst erkannte und kritisierte, wie innovative wissenschaftliche Impulse dann nur zu oft in das enge Korsett der offiziellen Weltanschauung hineingepreßt und dadurch deformiert wurden.
Zukünftige Forscher der Kuczynski und Gradenwitz Privatbanken werden vielleicht den gerade von der DDR-Betriebsgeschichtsforschung betonten Faden wieder aufnehmen und die Angestellten und Mitarbeiter dieser Banken als gewichtigen Teil der Unternehmensgeschichte mit einbeziehen. Dies hätte jedoch den Rahmen des vorliegenden und mehr auf die Familiengeschichte zugeschnittenen Werkes gesprengt.
Zu den zahlreichen Stärken dieses Buches zählt Lembkes Umgang mit dem jüdischen Hintergrund beider Familien. Dabei geht es ihm nicht nur um das Berliner jüdische Bürgertum, zu dem beide Familien gehörten, sondern auch um die Familienwurzeln in Posen und Breslau. Der Autor webt die komplexen genealogischen Verzweigungen der Kuczynskis und Gradenwitz’ zusammen mit der wirtschaftlichen und sozialen Geschichte des preußischen Judentums. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den diversen Hürden, die jüdische Einwohner Preußens im 19. Jahrhundert zu überwinden hatten, um wirtschaftlich und sozial aufzusteigen. Die von Lembke hierfür erschlossene breite Quellenbasis schließt Adressbücher, Einwohnerverzeichnisse, Meldebücher und Meldekarteien ein.
Unter den dramatis Personae, die Lembke dabei näher beleuchtet, ist Jürgen Kuczynskis Großvater Wilhelm. Geboren 1842 als Kind des Kaufmanns Abraham Nachman Kuczynski und dessen Ehefrau Emilie Cohn in Posen, findet sich Wilhelm Kuczynskis Name erstmals 1868 im Berliner Adressbuch als »Banquier«. Lembke recherchierte detailliert, wie Wilhelm Kuczynski im Aufwind der Gründerzeit seine Bank ins obere Drittel der mittelgroßen Berliner Privatbanken manövrierte, um sich dann den Themen Heiratsverhalten, Salonfähigkeit und Mäzenatentum zuzuwenden. Lembke greift hier unter anderem auf die zirka 250 Glückwunschtelegramme zurück, die Robert René Kuczynski und Berta Gradenwitz anläßlich ihrer Hochzeit erhielten. Zusätzlich wertet er die Geschenkliste und damit die Namen der von mehr als hundert Schenkenden sowie Kurzbeschreibungen der Geschenke aus. So entsteht ein spezifisches Bild der Gesellschaftskreise und sozialen Kontakte, in denen sich die Kuczynskis damals bewegten. Lembke schreibt: »Weniger durch Geschäftsbeziehungen als vielmehr durch ›Geselligkeit‹ waren die Kuczynskis mit zahlreichen Berliner großbürgerlichen Familien verbunden, die Namen wie Landshoff, Kirchheim, Mühsam, Barschall, Dannenbaum Jaffé, Illich und Friedländer trugen.«
Zu den tragischsten Abschnitten dieses Buches zählt das Kapitel über die schließliche Auflösung der Kuczynski-Bank im Zuge der »Entjudung« der deutschen Wirtschaft im Nationalsozialismus. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch stieg die Kuczynski-Bank auf. 1924 lag sie bereits unter den ersten acht Prozent von zirka 400 Berliner Privatbanken. Doch Weltwirtschaftskrise und Bankenkonzentration Ende der zwanziger Jahre brachten die Kuzynski-Bank zunehmend in Bedrängnis. Die Nazis vernichteten schließlich »das als jüdisch gebrandmarkte Bankhaus Wilhelm Kuczynski« im Mai 1943. Wilhelms Nachfolger und Schwiegersohn Richard Rosenthal gelang gemeinsam mit seiner Frau Emmy die Flucht in die USA, während andere Familienmitglieder in Theresienstadt ermordet wurden.
Weiterführende Arbeiten über die Kuczynski Familie werden vielleicht den sozial engagierten Wirtschaftswissenschaftler Robert René Kuczynski als wichtiges Bindeglied zwischen dem Bankiergroßvater Wilhelm und dem marxistischen Enkelsohn Jürgen Kuczynski näher untersuchen. Und zu bedenken bleibt auch: Bei aller antikapitalistischer Orientierung betonte Jürgen Kuczynski für sich und seine Mitarbeiter immer Leistungsdenken, Unabhängigkeit und Durchsetzungsvermögen – Familien-Eigenschaften, die den sozialen Aufstieg seiner Vorfahren möglich machten.

Hans H. Lembke: Die Schwarzen Schafe bei den Gradenwitz und Kuczynski: Zwei Berliner Familien im 19. und 20. Jahrhundert, trafo Verlag Berlin 2008, 29,80 Euro