von Wolfgang Schwarz
Am 6. April 2009 hat der Nordatlantikpakt den 60. Jahrestag seiner Gründung begangen. Im Vorfeld des Jahrestages war von diversen Bündnisakteuren darauf verwiesen worden, daß die NATO einer neuen Strategie bedürfe, da die gegenwärtig gültige dem Jahre 1999 entstamme und den aktuellen Herausforderungen nicht mehr entspreche. Das hatte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Regierungserklärung vom 26. März expressis verbis konstatiert und darauf abgehoben, daß seit 1999 »eine Fülle neuer Erfahrungen« gemacht worden sei. Stellvertretend für diese verwies die Kanzlerin auf den 11. September 2001 und das nachfolgende militärische Eingreifen von NATO-Staaten in Afghanistan. Auf dem Gipfel selbst und seither war bisher kaum Erhellendes oder gar im Bündnis Konsensfähiges zum Thema Zukunftskonzept der Allianz zu hören.
Auch mit grundlegenden sicherheitspolitischen Altlasten tut man sich unverändert schwer. So schiebt die NATO praktisch seit 19 Jahren, seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes, die Frage vor sich her, wie sie langfristig und nachhaltig das Verhältnis zu Rußland zu gewichten und zu gestalten gedenkt. Der vor einigen Jahren installierte NATO-Rußland-Rat ist allenfalls eine halbherzige Antwort auf diese Frage und noch dazu eine, die keiner Krise standhält – wie der Georgienkonflikt 2008 offenbart hat. Nach dessen Ausbruch ließ die NATO ohne Prüfung der Umstände ihren aus dem Kalten Krieg überkommenen antirussischen Beißreflexen freie Bahn und legte die Kooperation im Rat auf Eis. Die Trotzreaktion hielt bis April dieses Jahres an.
Das ließ zwar strategische Weitsicht vermissen, aber zumindest blieb die NATO damit einer Konstante in den sechs Jahrzehnten ihrer Existenz treu. Man erinnert sich: Vom ersten NATO-Generalsekretär, dem Briten Hastings Ismay, ist auf die Frage nach den Zielen der Allianz das Apergu überliefert – »to keep the Americans in, the Russians out and the Germans down«. Zwei Elemente dieser Trinität sind Geschichte: Die USA haben seit Jahrzehnten keine Neigung zum Isolationismus und zum Rückzug aus Europa wie nach dem Ersten Weltkrieg mehr gezeigt, und die Deutschen am Boden zu halten, war bereits mit dem NATO-Beitritt der BRD im Jahre 1955 kein wirklicher Vorsatz mehr. Aber die Sowjetunion und später Rußland »draußen« zu halten, international zu isolieren, sich militärisch möglichst nah an russische Territorien heranzuschieben, das prägte das amerikanische Verhältnis zum früheren Hauptgegner noch während der gesamten Administration unter Bush jr. und bestimmte auch das Verhalten der NATO insgesamt bis in die Gegenwart hinein, wie die beiden Osterweiterungen des Paktes in den neunziger Jahren unschwer erkennen lassen. Und diese Linie setzt sich mit den »NATO-Beitrittsperspektiven« für die Ukraine und Georgien fort, zu denen sich auch Kanzlerin Merke1 in der erwähnten Regierungserklärung erneut bekannte.
Rußland bleibt – und nur sicherheitspolitisch Blinde oder Narren können diesen Sachverhalt ignorieren oder leugnen – aufgrund seiner geostrategischen Lage und seines militärischen Potentials als nukleare Großmacht ein Faktor, gegen den Frieden und Sicherheit in Europa und in angrenzenden Regionen nicht zu haben sind. Konfrontation oder auch nur eine Attitüde, Rußland grundsätzlich oder im Einzelfall vorschreiben zu wollen, welche seiner selbst definierten sicherheitspolitischen oder anderen Interessen legitim seien oder nicht, führen daher zwangsläufig immer wieder in Sackgassen. Das ist nicht zuletzt auch eine Erfahrung aus sechzig Jahren NATO.
Diese Feststellungen sollen nicht als Plädoyer mißverstanden werden, jede Arabeske Moskauer Politik devot zu akzeptieren. Keinesfalls. Das Postulat des Interessensausgleichs gilt, wo es um eine stabile internationale Ordnung geht, auch für Moskau. Aber ein Plädoyer dafür, Rußland nicht als Akteur zweiter oder noch minderer Ordnung zu behandeln, sind diese Feststellungen schon. Und eine Aufforderung zum Paradigmenwechsel: Statt NATO gegen oder bestenfalls inkonsequent kooperativ gegenüber Rußland – Rußland in die NATO!
Den Mut zu diesem Gedanken hatte unlängst Ex-Außenminister Joschka Fischer: »Warum … nicht darüber nachdenken, die NATO zu einem effektiven europäischen Sicherheitssystem umzubauen, inklusive Rußlands?« Und Fischer führte Argumente ins Feld, denen hier ausdrücklich zugestimmt werden soll: Es könnten »zahlreiche strategische Ziele … erreicht werden: europäische Sicherheit, Lösung von Nachbarschaftskonflikten, Energiesicherheit, Abrüstung, Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen«
Illusionär? Utopisch? Blasphemisch? Derartige Attribute sind Anfangen vergleichsweise revolutionären Umdenkens noch jedes Mal angehängt worden. Man denke an den von Egon Bahr entwickelten Grundgedanken »Wandel durch Annäherung«. Ob Fischers Idee das Zeug zu einer Wiederbelebung dieses Ansatzes oder gar dazu hat, vergleichbar erfolgreich zu werden, wird die Zukunft zeigen. Fragen stellen sich in diesem Kontext nicht wenige. Zumindest zwei sollen hier noch angerissen werden.
Wie würde sich Moskau zu einer entsprechenden Offerte stellen? Der Autor weiß es nicht. Ablehnung ist durchaus ins Kalkül zu ziehen, nicht zuletzt weil konservatives Beharrungsvermögen beileibe kein Alleinstellungsmerkmal des Westens ist. Gleichwohl stammt vom russischen Präsidenten Dimitri Medwedjew die Anregung zu einer neuen euroatlantischen Architektur »von Vancouver bis Wladiwostok« – vorgetragen während seines ersten Staatsbesuches in Berlin im vergangenen. Jahr. Damit sind Rußland und die Nordatlantische Gemeinschaft ebenfalls »zusammengedacht« worden.
Und wie würde die Reaktion der neuen osteuropäischen NATO-Staaten ausfallen? Daß Polen und die baltischen Republiken sich im Falle des Falles von antirussischen Ressentiments leiten lassen, haben sie ja bereits mehrfach unter Beweis gestellt. Dafür gibt es historische Gründe, die für Polen über Katyn und für das Baltikum über die sowjetische Annexion von 1940 im Gefolge des Hilter-Stalin-Paktes durchaus weit hinaus reichen. Strategisch produktiv ist eine konfrontative Haltung gegenüber Rußland deswegen heute aber noch lange nicht. Die Sicherheit gerade dieser »Frontstaaten« setzt ein kooperatives Verhältnis zu Rußland nachgerade voraus. Daran ändert ihre NATO-Mitgliedschaft nichts. Wenn man in polnischen Führungskreisen tatsächlich glauben sollte, als Vorposten eines amerikanischen Raketenabwehrsystems von diesen Gegebenheiten befreit zu sein, dann halte man sich vor Augen: Im Konfliktfall wäre das amerikanische System ein primäres Ziel für russische Angriffe, und sollten die nuklear erfolgen, dann wäre Polen doch noch verloren.
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