Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 3. August 2009, Heft 16

Non dolet ipse Dolet …

von Hermann-Peter Eberlein

Am 3. August 1546, seinem Geburtstag, wird auf der Place Maubert in Paris ein Mann gefoltert (man schneidet ihm die Zunge heraus), gewürgt und – gemeinsam mit seinen Büchern – öffentlich verbrannt. Der Mann war Verleger, Freigeist, Poet: Solche Menschen sind Herrschenden schnell suspekt. Hinterlassen hat er einige Gedichte, die zu den anrührendsten der Renaissance gehören. Heute ist er beinahe vollkommen vergessen.
Der Mann heißt Etienne Dolet.
Vor fünfhundert Jahren, am 3. August 1509, wird er in Orléans geboren. Bereits um 1521 beginnt er seine Studien in Paris – seinerzeit nichts Ungewöhnliches. Fünf Jahre später wendet er sich nach Padua; 1530 übernimmt er für ein Jahr den Posten eines Sekretärs beim Bischof von Limoges, der als französischer Botschafter bei der Republik Venedig akkreditiert ist. Danach kehrt Dolet in sein Heimatland zurück. Er geht nach Toulouse, um die Rechte zu studieren. Hier gerät er 1532 in gewalttätige Unruhen zwischen den nationes der Universität hinein; Dolet wird in Haft gesetzt und verbannt.
Er flieht nach Lyon, wo er bei dem berühmten Sebastian Gryphius das Druckerhandwerk erlernt. Sofort beteiligt er sich an der Seite der Ciceronianer an dem seit einigen Jahren schwelenden Streit mit Erasmus von Rotterdam um die Bedeutung Ciceros für die humanistische Sprachkultur. In diesem Zusammenhang stehen seine ersten größeren Werke. Eines widmet er seinem König, der ihm daraufhin das Privileg erteilt, sämtliche von ihm verfaßten oder herausgegebenen Schriften ausschließlich selbst drucken zu dürfen. Doch die Gnade des Monarchen reicht noch viel weiter: Als Dolet am Silvestertag 1536 – vermutlich in Notwehr – den Maler Guilleaume Compaing tötet, wird er verhaftet und erst auf Intervention Franz I. entlassen.
In den Folgejahren etabliert er sich mit einer eigenen Druckerei. Er ediert antike Texte, beschäftigt sich aber immer stärker auch mit dem volkssprachlichen Humanismus. Dieses Interesse zeigt sich besonders in seinem 1540 erschienenen Werk La manière de bien traduire d’une langue en l’aultre, das er Joachim du Bellay widmet, dem Theoretiker der Pléjade. Mit ihm verteidigt Dolet das Französische gegen die Geringschätzung, die die Gelehrten ihm entgegenbringen, und mahnt dazu, die Volkssprache durch Pflege und Bereicherung auf die Höhe des klassischen Latein zu erheben. So ist es konsequent, wenn er nun auch Werke von Zeitgenossen verlegt wie Rabelais oder Clément Marot.
Gefährlich wird es für Etienne Dolet, wenn er Streitschriften oder Satiren veröffentlicht, in denen man eine Nähe zum Protestantismus oder gar zum Atheismus erkennen zu können meint. Der Verleger ist sich dieser Gefahren sehr wohl bewußt; eine Fassade von Rechtgläubigkeit scheint durch alle Texte hindurch, die seine Presse verlassen. In seinem Cato Christianus von 1542 bietet er zudem ein eigenes Glaubensbekenntnis.
Doch gerade dieses Buch wird ihm zum Verhängnis; zum ersten Mal wird er wegen atheistischer Ketzerei ins Gefängnis geworfen. Fünfzehn Monate bleibt er in Haft, dann kommt er durch Intervention eines Bischofs frei. Kurz darauf wird er unter einer anderen Anschuldigung erneut verhaftet; diesmal gelingt ihm die Flucht nach Piemont.
Ist es Unvorsichtigkeit? Ist es ein Gefühl von Überlegenheit? Oder ist es vielleicht sogar ein geheimes inneres Bedürfnis, dem Wesen der eigenen Existenz Ausdruck zu verleihen, die Dolet nun seinen verhängnisvollsten Schritt tun läßt: aus dem sicheren Exil nach Lyon zurückzukehren und mit Hilfe eines Buches Gerechtigkeit einzufordern? Noch 1544 erscheint dieses, sein heute einzig bekannt gebliebenes Werk: Le second enfer. Das Buch ist eine Satire auf das Pariser Gefängnis; in ihm zeigt sich vielleicht am besten des Autors unorthodoxe Haltung, seine subversive Tendenz und der beißende Spott gegen jede Form geistiger Borniertheit. Sich selbst charakterisiert er so: »Mein Naturell ist, immer zu lernen. Wenn es sich ergibt, daß ich irgendwo Tage verbringe ohne zu lernen, muß ich sofort wegziehen.« Oder, klagend: »Bin ich anders als ein Tier oder ein Vogel, der sich Leib und Haupt zugrunde richtet, um sich außerhalb der Gefangenschaft wiederzufinden?«
In diesen Sätzen geht es um weit mehr als um Erfahrungen im Kerker. Die Metapher schließt jede Form geistiger Begrenztheit ein. In Dolet stecken ein unbändiger Erkenntnisdrang und ein unstillbares Bedürfnis nach Freiheit gleichermaßen – das kann eine autoritäre Gesellschaft nicht tolerieren. Ein letztes Mal wird der Dichter verhaftet; ein Gutachten der Theologischen Fakultät Paris überführt ihn des Atheismus; er wird in die Hauptstadt überstellt. Im Kerker dichtet er eine Cantique sur la désolation et la consolation – ein ergreifendes Zeugnis seiner humanistischen Gesinnung und zugleich seiner Ergebung in Gott. Kurz vor seinem Tod soll er noch diesen Pentameter gedichtet haben, der sein individuelles Schicksal zum Symbol jeder Unterdrückung werden läßt: Non dolet ipse Dolet, sed pia turba dolet. Frei übersetzt: Nicht allein Dolet leidet, sondern das fromme Volk.