Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 31. August 2009, Heft 18

Liebe im Exil

von Hermann-Peter Eberlein

»Ich habe dort unten in der Mensa im Marstallhof, die auch weiter die Mensa ist, vor soundsoviel Jahrzehnten einen Studenten getroffen, mit dem ich dort in der großen Aula, die noch dieselbe ist, in Jaspers’ Vorlesungen und Seminaren gesessen habe, Zettelchen austauschend, und den ich dann nach den beiderseitigen Doktorexamen geheiratet habe, und der jetzt Professor ist (wenn auch in einem anderen Fach), wie er es schon als Student gewünscht hatte. Als sei dies ein Film, aus dem nur der Mittel- und Hauptteil weggeschnitten zu werden braucht, und die beiden Enden passen nahtlos zusammen.« So Hilde Domin über den Beginn des gemeinsamen Lebens mit Erwin Walter Palm. Zwischen der Heidelberger Studentenzeit, die 1932 endet, und der Berufung Palms auf den Heidelberger Lehrstuhl für Iberische und Iberoamerikanische Kunstgeschichte 1960 liegen als Mittel- und Hauptteil die gemeinsamen Studienjahre in Florenz und Rom (bis 1939), das Exil in England und in der Dominikanischen Republik, Aufenthalte in Spanien und den USA, schließlich die Rückkehr nach Deutschland und das Erscheinen von Domins erstem Gedichtband »Nur eine Rose als Stütze«, der sie schlagartig berühmt macht. Für Palm sind diese bald drei Jahrzehnte die Zeit, in der er sich zu einem international geachteten Gelehrten entwickelt (sein Hauptwerk »Los monumentos arquitectónicos de La Española« erscheint 1955 in Ciudad Trujillo), seinen Traum von der künstlerischen Karriere in der Nachfolge Stefan Georges aber begraben muß; Domin verdient Geld als Sprachlehrerin, läßt sich in Architekturfotografie ausbilden, arbeitet ihrem Mann zu und wird beinahe unbeabsichtigt zur Dichterin.
Ihr Leben lang sind die beiden – vielleicht auch, weil ihnen Kinder versagt blieben – innigst aufeinander bezogen geblieben; Domins erste Gedichte entstehen bezeichnenderweise innerhalb ihres ehelichen Briefaustausches. Diese Innigkeit spricht aus jedem der im vorliegenden Band abgedruckten Briefe aus den Jahren 1931 bis 1959: aus den kitschigen und doch anrührenden Kosenamen (»Äfflein«, »Hase«), aus den Zärtlichkeiten (»Je baise tes yeux«), Diminutiven, Kritzeleien. Über zweitausend teils sehr ausführliche Briefe umfaßt allein der Briefwechsel mit ihrem Mann und ihren Eltern aus den Jahren der Emigration; kaum etwas von ihrer Korrespondenz scheint die Dichterin vernichtet, aber vieles wohl in Schubladen und Schrankfächern vergessen zu haben. Schon 1942 aber, als zwar nicht sie, aber Palm auf dichterischen Nachruhm hoffen konnte, hatte Domin ihrem Mann heiter-ironisch vorgeschlagen, dereinst in hohem Alter darüber zu entscheiden, was der Nachwelt zu erhalten und was dem Feuer zu übergeben sei.
Das ist nicht passiert; und darum haben sich die Herausgeber wenige Jahre nach dem Tode der grande dame der deutschen Lyrik der schwierigen Aufgabe unterziehen müssen, den schmalen Grad zwischen dem öffentlich-literarischen Interesse und dem Schutz der Intimität eines Liebespaares zu finden. Immerhin hatte Hilde Domin selbst noch im hohen Alter bei aller persönlichen Liebenswürdigkeit auch Nein! sagen und klare Grenzen ziehen können. So hat der Leser manchmal den Eindruck, allzu tief in eine ganz und gar persönliche und durchaus nicht einfache Beziehung hineinzuschauen – so besonders für die Zeit der großen Krise zwischen den Partnern Anfang der fünfziger Jahre, etwa anhand des langen Briefes vom 15. Mai 1953, in dem es um gegenseitige Vorwürfe, den Egoismus Palms und die Berechtigung sexueller Beziehungen zu anderen Partnern geht. Andererseits erschließt die Ausgabe beispielhaft das Leben junger und stürmischer Intellektueller im Exil, die sich trotz äußerer Schwierigkeiten und einer Inselkäfigexistenz Lebensmut und Lebenslust nicht zerstören lassen, sondern sich voller Elan und Gefühl einander, ihrer Liebe und ihrem Glück hingeben und die Welt, in der sie leben, mit wachen, offenen Augen wahrnehmen.

Hilde Domin: Die Liebe im Exil. Briefe an Erwin Walter Palm aus den Jahren 1931-1959, herausgegeben von Jan Bürger und Frank Druffner unter Mitarbeit von Melanie Reinhold; S. Fischer-Verlag Frankfurt am Main 2009, 384 Seiten, 19,90 Euro