Erklärung des Wahlversprechens
Zu den Lasten, an denen Politiker schwer zu tragen haben, gehört es, daß sie Leute, sogenannte Bürger oder Wähler, regieren müssen, die nicht so klug sind wie sie. Mangelndes Wissen, fehlende Übersicht, Uneinsichtigkeit und Trägheit des Denkens sind einige der Gründe dafür, daß diese Leute häufig eine andere Meinung haben als die Politiker und mit ihnen und deren Handeln hadern. Streckenweise trifft das auf bis zu zwei Drittel der Bevölkerung zu. Da demokratische Politiker nicht gegen die Meinung des Volkes, von dem bekanntlich alle Macht ausgeht, regieren, aber auch ihre richtige Meinung nicht gegen eine falsche der Wähler eintauschen können, sagen sie warmherzig und selbstkritisch, daß sie ihre Meinung, ihre Absichten, ihr Tun und Lassen den Wählern besser und noch besser und immer wieder erklären müssen, so daß letztere ablassen von ihrem irrigen Fehlverhalten und voller Einsicht das Tun und Lassen der Politiker als gut und richtig erkennen.
Besonderes Augenmerk muß in diesem Zusammenhang auf die Wahlversprechen gerichtet werden. Hier dürfte die Zahl derer, die falsche Auffassungen haben, noch weit höher liegen als bei Einsätzen der Bundeswehr, glaubt doch eine übergroße Mehrheit, unterstützt von Teilen der Presse, Wahlversprechen seien solche, deren Nichteinhaltung ehrenrührig sei und sogar als lügenhaft bezeichnet werden dürfe. Hier ist der Erklärungsbedarf groß. Wenn ein Gastwirt einen Gast auf die Theke legt und ihm mit einem Messer den Bauch aufschlitzt, ist das eine schwere Straftat, die mehrjährige Haft nach sich zieht. Wenn ein Chirurg einen Patienten auf den Tisch legt und ihm den Bauch aufschneidet, ist das eine Heilbehandlung. Was bei dem Kneipier eine Verfehlung ist, ist bei dem Arzt eine Arbeitsmethode.
Nichts anderes gilt für und zwischen Versprechen und Wahlversprechen. Während das schlichte Versprechen auf Erfüllung ausgerichtet ist, liegt der Zweck des Wahlversprechens nicht in seiner Erfüllung, sondern darin, ein bestimmtes Wahlverhalten zu erzeugen. Das Wahlversprechen ist eine Arbeitsmethode des Politikers, mit der, wieder vergleichbar der Vorgehensweise des Chirurgen, die Angesprochenen narkotisiert und bearbeitet werden.
Und ebenso wie das Wahlverhalten am Abend des Wahltages endet, endet das Wahlversprechen zum gleichen Zeitpunkt. Würde der Politiker nach dem Wahltag an seinem Versprechen festhalten, wäre das, wie wenn der Chirurg am Patienten nach dessen Gesundung weiterhin herumsäbeln würde. Dies muß den Bürgern klargemacht werden. Jegliche Mißverständnisse darüber müssen ausgeräumt . werden. Das ist ganz wichtig, weil im Unterschied zum Schnitt des Chirurgen, der für die Gesundung des Behandelten gedacht ist, das Wahlversprechen dem Wohl des Behandelnden dient und sich wohlfühlende Politiker für das Gedeihen des Gemeinwesens unentbehrlich sind.
Günter Krone
Nachtwache
Es ist ein heute ebenso friedlicher wie unheimlicher Ort, an dem die Gewerkschafterin Ingrid Kröning die Vergangenheit lebendig werden ließ. Auf dem Gelände des Moabiter Gedächtnisparks gegenüber dem Lehrter Bahnhof befand sich einst ein Zellengefängnis. Hier war bei den Nazis eine Zeitlang ihr Vater, ein Gewerkschafter und Kommunist, inhaftiert. Sie selbst war sechs Wochen alt, als auch ihre Mutter 1937 verhaftet wurde. Ihr erstes Lebensjahr verbrachte die kleine Ingrid im Gefängnis. Den Vater lernte sie nie kennen. Er wurde 1942 umgebracht. Weit über hundert Menschen hatten sich in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli am authentischen Ort in Berlin-Moabit versammelt, um in einer Nachtwache den 75. Jahrestag der Ermordung Erich Mühsams zu begehen, der hier 1933 ebenfalls inhaftiert war.
Die offizielle Erinnerungskultur in Deutschland setzt in diesem Jahr andere Schwerpunkte. Denkt jemand daran, daß sich der Kriegsbeginn in wenigen Wochen zum 70. Mal jährt? Warum vor verstorbenen Nazis warnen, wenn Stasi-Zuträger noch unter uns sind!
Erich Mühsam, jüdischer Abkunft, war Bohemien und Anarchist, Literat und Politiker. Die Nachtwache, die von dem Publizisten Ralf G. Landmesser und einem Freundeskreis organisiert wurde, vereinte Antifaschisten verschiedener Herkunft.
Der ehemalige PEN-Generalsekretär Wilfried F. Schoeller hatte sich ebenso zu einem Vortrag bereiterklärt wie Mitglieder der B. Traven- und der Kurt Tucholsky-Gesellschaft. Die Autorin Uschi Otten beleuchtete das Schicksal von Zenzl Mühsam, die aufgrund ihrer anarchistischen Gesinnung im sowjetischen Exil schwersten Repressionen – von Wilhelm Pieck sanktioniert – ausgesetzt war und auch nach der Rückkehr in die DDR wenig Unterstützung erfuhr.
Erfrischend waren die Auftritte des Duos »Geigerzähler«. Die beiden jungen Leute haben in ihren Liedern einen neuen Zugang zu Texten von Mühsam und Tucholsky gefunden und ihre eigenen Lieder, wie »Heul doch, Nazi«, schlugen den Bogen zum Vermächtnis der Antifaschisten verschiedener Couleur, das aktuell geblieben ist.
F.-B. Habel
Kommentar zum Kommentar
In Heft 5/2009 des Blättchens reagierte Artur Frenzel auf einen Artikel von mir, der drei Hefte zuvor erschienen war (Im Seniorenstift). Er warf mir vor, ich argumentiere »emotional«, würde bestimmte Wortbedeutungen nicht kennen und »Teil des Problems und nicht der Lösung« sein. Es handelt sich hier offenbar um ein veritables Mißverständnis. Ich hatte in dem Artikel versucht, die soziale Benachteiligung von Eltern und Kindern aufzuzeigen, während mein Kritiker in seinem Kommentar das »Betrügen von ahnungslosen Kleinsparern mit windigen Anlageformen« anprangert. Diese Anspielung auf die derzeitige Wirtschaftskrise ist möglicherweise aktueller als benachteiligte Kinder, steht aber in keinem Bezug zu meinem Artikel.
Ich hatte unter anderem geschrieben: »In der derzeitigen Gesellschaft […] ist für Kinder gar kein Platz mehr […]. Kinder belasten, da weder Sozialstaat noch Wirtschaft die werdenden Familien ausreichend entlasten.« Ich bin der Meinung, daß auch der Streik der Kindergärtnerinnen diese Situation nicht verbessern wird, weil mehr Gehalt die gesellschaftliche Einstellung zu Kindern nicht verändert. Artur Frenzel sieht das anders und meint, ich argumentiere gegen eine angemessene Bezahlung aller Berufsgruppen. Er irrt.
Bernhard Spring
Das Netz
Ein heißer Tag, Brühten über Problemen, ohne Hose, Schweiß rinnt dennoch. Nichts passiert – nichts nennenswertes, das übliche, nur langsamer, ächzender, anstrengender, marternder: Hitze, Kreisen, Schwere. Delirium der Gedanken, sabbernd wiedersprechend, auswürgend, einbrennend, Sonne in den Augen, weiße Punkte in der Sicht, weg, weit weg, keine Bewegung in der Luft, Kreisbewegungen im Schädel: Summen, Hallen, Stechen, Dröhnen.
Zwischen den weißen Punkten plötzlich ein Roter: »Kann die Natur so etwas erschaffen?« Der Kreis im Kopf – durchbrochen. Mit schwerem Schädel erheben, seine gefühlte Schwere wirft ihn zurück. Sein betonierter Nacken erlaubt ihm kleine Bewegungen des Kopfes, folgt dem roten Punkt, über ihm, weit über ihm, klein, unscharf wie seine ganze Optik. Der Punkt bewegt sich auf und ab, hin und her, kein System: Leben – klein und rot. Er reißt die Augen auf.
Seine Umgebung schnellt heran, wird schärfer, sein Bewußtsein tritt nach außen, die Wahrnehmung vervollständigt sich. Lichtstrahlen brechen sich an klebrigen Fäden, ein Gefühl des warmen Schauers stellt sich ein. Diese klebrigen Fäden spinnt der rote Punkt, sechs kleine Beine vom kleinen Körper führend hangeln geschickt daran. So majestätisch das Schauspiel ist, der Zweck bleibt hier wie überall der gleiche: Erhalt des eigenen Lebens, nicht gemacht für andere, sondern für sich; die Ästhetik bleibt Abfallprodukt der Jagdmethoden des Spinnentiers. Und doch überfallt ihn Sehnsucht zu ergründen, was dieses Tier dort treibt, wie es sich hangelt, wie es webt, spinnt, kreiert.
Zur Erkenntnis ist die Studie nötig, vordringen ins geheimste, in die Natur. Sein schwerfälliger Verstand erwacht, sein Körper richtet sich auf, ihm schwindelt, wieder benommen steht er vor dem Netz.
Er sieht die Querverbindungen, die Spinne hin und her springen, ganz nah, die im Licht gleißenden Fäden irn Schatten des Dachgiebels verschwinden; sein heißer Atem läßt die Spinne stocken, sich klein machen, verschwinden wollen. Aus Neugier bläst er ins Netz, es schlägt vor und zurück, aus Erkenntnisdrang ward Sadismus, der Gedanke bricht in sein Hirn, die Draufsicht langweilt ihn: »Wie sieht das Vieh von der Seite aus?«, murmelt er halb besoffen. Er neigt seinen Kopf, schiebt ihn näher ans Netz, bis sich ein warmes Kleben an seiner Backe einstellt, er schreckt zurück, ein leises Ratschen signalisiert das Ende des Netzes, seine Sicht ist wild, nur kurz, er packt sich. Links und rechts hängen die Reste, die Spinne ist äuf und davon.
Erschöpft sackt er in den Stuhl zurück – Fortschritt, keine Erkenntnis.
Paul
Wortgefecht
Wenn Staatenlenker bei Staatenlenkern zu wichtigem Besuch sind, setzen sich am Abend Besucher und Besuchte gemeinsam an eine festlich gedeckte Tafel und verzehren zu köstlichen Weinen erlesene Speisen. Seriöse und den Speisenden gewogene Berichterstatter schreiben darüber, die hohen Persönlichkeiten speisten in angeregter Atmosphäre gemeinsam zu Abend.
Radikale von besonders übler Gemütsart, die derartig hohe Persönlichkeiten nicht leiden mögen, sagen dazu, die Bonzen haben sich mal wieder auf Steuerzahlerkosten den Wanst vollgeschlagen. Beide Formulierungen beschreiben dieselbe Tatsache, nur jeweils mit anderen Worten.
Jeder Sachverhalt läßt sich auf mehrfache verschiedene Weise ausdrücken. Allein die Bezeichnung des Lebensmitte-in-den-Mund-Steckens reicht von Speisen bis Runterwürgen. Die Worte, die der jeweilige Betrachter wählt, ändern nichts am Gegenstand, machen ihn weder besser noch schlechter noch sonst was, aber sie zeigen, wes Geistes Kind der Betrachter ist. Wenn ein Beschauer das Bild eines berühmtem Malers statt als Kunstwerk als Schinken bezeichnet, ist der Beschauer entweder ein Banause oder er will den Besitzer des Bildes übers Ohr hauen. Wem ein Minister Soldaten gegen einen Feind schickt, der schießt und beschossen werden muß, der Soldaten tötet und von den Soldaten getötet wird, wenn also der Minister dieses Geschehen nicht als Krieg bezeichnet, sondern als »Stabilisierungseinsatz«, so ändert das nichts an der Tatsache, die andere von anerkannter Kompetenz als Krieg bezeichnen.
Aber es bleibt die Frage, warum der Minister gerade diese Worte wählt.
Günter Krone
Einen Leben lang
Drei alte Damen am Samstag bei Karstadt. Nachdem sich eine verabschiedet hat, fragt die eine Verbliebene die andere, wer das gewesen sei. »Ach, die kenn’ ich vom BDM.«
Andreas Dietrich
Schlagwörter: Bemerkungen