Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 31. August 2009, Heft 18

Bemerkungen

Naturrecht oder Alte Busen kehren gut

Daß das Bundesverfassungsgericht das Gesetz des Bundstages über die Pendlerpauschale für verfassungswidrig erklärt hat, ist schon fast vergessen, nicht weil es lange her ist, vielmehr weil seitdem noch mehrere Aktivitäten von Regierung und Parlamentsmehrheit den Tadel des Gerichtes erfuhren. Da war das Urteil zum Lissabon- Vertrag. Der Bundestag muß den Begleitvertrag nachbessern. Sein bisheriges Machwerk ist nicht grundgesetzkonform.
Dann kam die Entscheidung zu den Rechten der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, in der die Richter die Informationsblockaden der Bundesregierung rügten. Und schließlich beanstandete das Gericht den Umgang der Regierung mit dem Auskunftsbegehren von Abgeordneten aus nicht an der Regierung beteiligten Parteien. Eine sogenannte Qualitätszeitung formuliert dazu: »Karlsruhe entwickelt sich zum Vormundschaftsgericht des Parlaments«.
Von Abgeordneten, die auf solchem Niveau regieren, intelligente Wahlwerbung zu verlangen, wäre geradezu unfair. Um hier Maßstäbe zu setzen, ist eine Bundestagskandidatin der CDU mangels Argumenten auf die Idee heruntergekommen, ihren Busen für sich sprechen zu lassen. Die Dame, bereits im Omaalter, zeigt sich auf ihren Wahlplakaten, absichtlich provozierend, mit tiefem, sehr tiefem Dekolleté. Nun ist ein großer Busen, selbst wenn das Verfallsdatum überschritten ist, auch nicht schlechter als eine große Koalition, und Ästhetik ist keine politische Kategorie.
Außerdem ist diese Entblößung als Versprechen völlig ungeeignet. Aber wenn für ein Bundestagsmandat geworben wird wie für Seife oder Abführmittel, findet das nicht eines jeden Betrachters Billigung.
Die Reaktionen sind unterschiedlich und manche sehr heftig ablehnend. Sie sollten lustig sein, erinnert doch diese Art des Sichanbietens an einen Witz, der in der DDR kursierte:
Der Betreiber eines Etablissements in Moskau in den Jahren nach 1970 versteht nicht, warum die bei ihm tätigen Damen so wenig Zuspruch finden, handelt es sich doch bei ihnen um alte verdiente Genossinnen, die alle noch mit Lenin gut bekannt waren.

Günter Krone

Magdeburg bei Berlin

Als nachgeborener Ostdeutscher hinter einer Rezeption im Westen des Landes stehend, können peinliche Momente eintreten, wenn man auf seinesgleichen oder als getarnter Fremder auf die Eingeborenen trifft. Dann kann sich ein urwüchsiger Bundesbürger beim Plausch darüber auslassen, daß er bereits die gesamte Donau beradelt hätte, nur die kommunistischen Länder meiden würde. Mit der Elbe sei es nicht anders: Da gab es ja mal die »Tätärä«.
Und weiter im Text, ein bißchen Bildung über die Umgebung erfragen, bis der Mann zu hören bekommt, daß man gar nicht von hier kommt. »Woher denn?« Aus Berlin.
Betretenes Schweigen, gab es doch einmal eine Teilung. Berlin ist ein zweischneidiges Schwert: Weiteres Fragen am besten unterlassen – weitere Fettnäpfchen müssen aus Etikette umgangen werden.
Später beim Arzt, wenn die Meldeadresse nicht auf Berlin ausgeschrieben ist.
»Wo ist das denn?«
»Bei Berlin!«
Ein vielsagendes Hhm huscht dann über die Lippen des Untersuchenden. Bekommt das Wort bei Berlin doch Flügel, da sich bei Berlin nur eines befindet und zwar Osten – der und kein anderer. Doch so direkt darf das nicht gesagt werden – politisch korrekt heißt es die neuen Bundesländer, zumindest offiziell. Inoffiziell wird daraus bei Berlin, ein bißchen verbrämt, halt eine Chiffre, die jeder versteht, aber nie direkt die Stimmung des Gegenüber ausdrückt.
»Die sind alle komisch, die bei Berlin.«
»Die aus’m Osten«, lautet der großmäulige Conter.
»Das haben Sie jetzt gesagt«, heißt die kleinlaute Verteidigung.
Aber zurück zur Rezeption, wenn für die Statistik erfragt werden muß, aus welchem Bundesland der Gast anreist. Zwei Herren aus Magdeburg offerierten, nachdem sie beschämt zugaben, daß sie aus Sachsen-Anhalt stammen, diese Stadt bei Berlin liegen würde. Als Berliner insistierte ich.
Aber so würden sie Fremden nun mal die Lage ihrer Stadt in diesem Land erklären – »die verstehen das«.

Paul

Ändern, schwergemacht

Das beste, das ich von der Begegnung mit diesem Buch sagen kann: Ich habe es mit ihm versucht. Der Titel des aktuellsten Sloterdijk-Titels »Du mußt Dein Leben ändern« war ja auch allzu verführerisch.
Denn »daß es so nicht weitergehen kann« auf dieser Welt, ist mir durchaus einsichtig. Und wenn ein so hochkarätiger Denker wie eben Sloterdijk sich damit befaßt, erhofft sich unsereins neue oder doch zumindest tiefere Ein- und mehr noch Aussichten. Nur eben – unsereins, das ist in meinem Falle leider bestenfalls eine Art gehobener Normalverbraucher, und also von jeder Kongenialität eines gestandenen Philosophen weit entfernt. Daß Sloterdijk auf einigermaßen ebenbürtige Rezipienten seiner aufgeschriebenen Gedanken baut, mag sicherlich sein gutes Recht sein. Nur – könnte er es nicht auch mal, und sei es nur zwischendurch, damit versuchen, sich auch jenen in den Ligen unterhalb des intellektuellen Olymp verständlich zu machen?
Zumal dann, wenn er sich mit einem fast appellarischen Titel an ja eigentlich alle wendet, da das Thema halt auch alle angeht?
Sicher kann Sloterdijk das. Getan hat er’s in diesem Falle aber leider nicht. Und so quält sich der eigentlich bedürftig Suchende durch eine oft nebulöse Gedankenkonstruktion, an der neben gewiß viel Stimmigem vor allem ein manierierter Begriffsapparat besticht.
Schade, Peter Sloterdijk, selbst wenn die extensive Aufforderung zur Änderung menschlicher Lebensweise viel mehr enthalten sollte als elitäre Eitelkeit: So, wie das Buch und sein Anliegen daherkommen, kann nur die Elite selbst ins lebensverändernde Grübeln kommen. Ob das aber ausreicht, um die Welt zu retten?
Ein deprimiert gescheiterter

Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, Suhrkamp Frankfurt am Main 2009, 380 Seiten, 24,80 Euro

Horst Jakob

Rosa Luxemburgs Korolenko

Mit 14 Jahren sollte ich das zur Festung erklärte Breslau verteidigen.
Weihnachten 1944 flüchtete meine Mutter mit uns Kindern aus der von der Roten Armee belagerten Stadt. Meine Schulausbildung war damit abgebrochen. Es begann ein abenteuerliches Flüchtlingsleben, zu dem auch die Aussiedlung aus Schlesien im August 1947 gehörte. Ein strapaziöser Transport brachte uns in die Nähe des zerstörten Dresden. Ich bemühte mich sofort um eine Lehrausbildung und um einen Schulabschluß. Im Dezember wurde ich mit 17 Jahren in die 9. Klasse der Oberschule Dresden-Ost aufgenommen. Bis zum Sommer 1948, also in einem halben Jahr sollte ich in mehr als 10 Fächern, darunter Englisch, Französisch und Russisch, das Klassenziel erreichen. Meine materiellen Lebensbedingungen waren verheerend. Nur mein Lernwille und die den Mitschülern überlegenen Lebenserfahrungen ermöglichten es mir, das Ziel mit einem mehr als guten Durchschnitt zu schaffen. Meine Russischlehrerin überreichte mir im Juli 1948 als Auszeichnung ein broschürtes Büchlein mit der in Russisch geschriebenen Widmung: »Wer viel wissen will, wird wenig Schlaf haben.« Das Buch war eine biographische Abhandlung über den russischen Schriftsteller und Revolutionär W. G. Korolenko. Um es richtig zu lesen, hatte ich damals keine Zeit und auch andere Sorgen. Jedoch die Widmung und der Name Korolenko prägten sich mir ein. Wie eine ungelöste Schulaufgabe begleitete mich die Erinnerung daran. Ich sammelte über Korolenko auch einige Zeitungsartikel und erwarb eines seiner Bücher.
Zum Lesen kam ich aber nie.
Im Sommer 2008 hielt ich nach sechzig Jahren das Büchlein mit der Widmung in der Hand. Ich entschloß mich, es nicht ungelesen wieder wegzulegen. Es war ein sonderbares Gefühl und eine große Überraschung. Korolenko und seine soziale Ader deckten sich mit meinen Überzeugungen.
Mein Interesse ließ mich sofort sein Buch »Die Geschichte meines Zeitgenossen« lesen.
Die kleine gedruckte Notiz in dem Buch, »Aus dem Russisches übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Rosa Luxemburg«, versetzte mich fast in ungläubiges Staunen und eine andere Zeit. Nicht nur die gute Übersetzung, besonders die Einleitung faszinierten mich. Wie konnte diese Frau 1918 im Strafgefängnis in Breslau unter so unwirtlichen Bedingungen eine vergleichende Studie der russischen mit der westeuropäischen Literatur schreiben, die ein Literaturwissenschaftler kaum an einer großen Bibliothek hätte zu schreiben vermocht? Warum hatte es in meinem Studium der russischen Literatur keinen Hinweis auf diese Arbeit von Rosa Luxemburg gegeben?

Helmut Hauck

Spatzenhirne

Wir saßen im Café und warteten:
Herr Hilfsbuchhalter, Aufsichtsratsvorsitzender und verdienter Stadtbilderklärer des Volkes, Genosse L., die Neubuchhalterin und Aktivistin unseres sozialistischen Kleinkollektivs Genossin D. und ich. Genossin D. fütterte einige Spatzen, die in größeren Familienverbänden unter, über und neben den Tischen anwesend waren. Die halbflüggen Jungvögel ließen sich von den Alten das Maul stopfen.
Genosse L. intervenierte: »Jetzt laß das mal, die Spatzen zu füttern. Die müssen alleine zurechtkommen!«
Jugendfreundin D. und ich erkannten das sofort als klassische Hetze:
Genosse L., als Vertreter der Klasse der Säugetiere, gönne wohl den unterprivilegierten Mitgliedern der Vogelklasse nicht die zugeworfenen Brosamen. Daß Vögel nicht säen und ernten, der Herr, beziehungsweise in diesem Fall die Jugendfreundin D., sie trotzdem ernähre, hätte er als Nebenerwerbspfarrer eigentlich wissen müssen, und daß das Teil des Schöpfungsplanes und somit gut sei.
Genosse L. aber, als eher idealistisch gesinnter Mensch, plädierte für eine mehr naturgemäße Ernährung des flugtätigen Volkes. Da war er bei uns aber an die richtigen geraten: Zurück zur Natur wäre ja wohl kleinbürgerliches Wunschdenken, und er würde wohl den Stadtspatzen, wahrscheinlich auch den Stadtfüchsen und anderem verstädterten Getier ihren einfachen Nahrungserwerb mißgönnen, statt sich zu freuen, daß auch andere Daseinsformen als der Mensch an dessen Überfluß teilhaben. Wir lebten ja schließlich nicht mehr zu Zeiten Brehms, der noch schreiben konnte, die Amsel sei ein scheuer Waldvogel, den der Mensch nur selten zu Gesicht bekäme. Sein scheinbar grünes Gerede sei ja letztlich übelster Sozialdarwinismus.
Die Sonne brannte weiter, und wir warteten. Darauf, daß die Buchhaltung anfing, denn schließlich waren wir derenthalben zusammengekommen. Hier im Café würde sie uns aber nicht finden, die vermaledeite Zahlenhexe. Ich begann zu träumen: Von Stadt- Spatzen der 4063sten Generation, die den Ruf des Visionärs L. nach einer natürlicheren Lebensweise aufnahmen, und wie fundamentalistische Spatzen an Fütterungsplätzen wie Cafés Selbstmordattentate verübten, um Mensch und Tier auf den rechten Weg zu bringen, wie Kamikazespatzen Tauben und Enten auf Plätzen und Teichen im Sturzflug terrorisierten …
Schließlich riß mich Genosse L. aus dem Halbschlaf: »Wir sollten langsam mal …« Wir sollten, ja.
Gut, daß das Federvieh so wenig Hirn hat. Groß genug, um zu erkennen, daß das Leben in der Stadt der Mühsal des »natürlichen« Daseins vorzuziehen ist, aber zu klein, um tödliche Ideologien zu entwickeln.

Martin Franke