Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 20. Juli 2009, Heft 15

Thema verfehlt

von Wolfgang Schwarz

Es gibt immer wieder Bücher, die muß man nicht gelesen haben. In der Regel merkt der Leser das mehr oder weniger rasch und legt den Mißgriff beiseite. Manchmal allerdings hält man wegen eines besonders geschätzten Autors und der dadurch genährten – letztlich aber doch enttäuschten – Hoffnung, daß da doch noch etwas Substanzielles kommen müßte, durch bis zum Ende. In die letztgenannte Kategorie fallt für den Rezensenten »Die linke Versuchung. Wohin steuert die SPD?«, geschrieben vom Nestor der westdeutschen Kommunismusforschung, Wolfgang Leonhard, und seiner Frau Elke.
Zum einen, weil die Antwort der Leonhards auf die im Untertitel gestellte Frage lautet: »Das wissen wir auch nicht.« Leider geben die Autoren diese Antwort nicht auf Seite 1 ihrer Schrift, sondern überlassen es dem Leser, nach 199, zum Teil ermüdenden, weil etwa mit Statistiken über die Wahlergebnisse kommunistischer Parteien in diversen europäischen Ländern in der Nachkriegszeit gefüllten Seiten, die entsprechende Konklusion nicht mehr von sich weisen zu können. Zum anderen, weil die Leonhards zu einer anderen, nicht minder interessanten Frage, die Thema und Titel des Buches implizit aufwerfen, ebenfalls nichts Erhellendes mitzuteilen wissen – nämlich auf die Frage, wohin die SPD denn steuern müßte, wollte sie ihren beispiellosen Niedergang denn noch aufhalten, ihren freien Fall in Richtung Selbstmarginalisiening, in dem sie sich befindet, seit sie unter Gerhard Schröder in die Regierungsverantwortung kam und die Agenda 2010 inklusive Hartz-IV-Gesetzgebung erfand.
Auf beide Fragen so gut wie nichts und neues schon gar nicht. Dafür ein kursorischer Überblick über 140 Jahre Geschichte der deutschen Sozialdemokratie und das wechselvolle Mit-, überwiegend jedoch Gegeneinander von Sozialdemokraten und Kommunisten im Europa des 20. Jahrhunderts. Beide Themenkreise sind historisch zwar schon recht gut ausgeleuchtet, aber wenn es Unbekanntes, Interessantes, fundiert neu Analysiertes dazu zu berichten gegeben hätte – warum nicht? Leider nochmals – Fehlanzeige.
Dafür verleihen die Autoren der SPD ein Alleinstellungsmerkmal unter allen politischen deutschen Parteien des 20. und 21. Jahrhunderts, das unter katholischen Vorzeichen genügen dürfte, eine Selig- mit dem Ziel nachfolgender Heiligsprechung in Gang m setzen: »Die deutsche Sozialdemokratie … ist die einzige Partei, die sich seit über 100 Jahren von allen totalitären Tendenzen ferngehalten und unter großen Opfern den Weg der Freiheit gewählt hat.« Und damit auch ja kein Leser diese Gloriole verpaßt, findet sie sich bereits im ersten Abschnitt des ersten Kapitels. Danach kann dann alles weitere letzten Endes nicht mehr so schlimm sein, wie es – historisch – war oder – aktuell – ist.
Um ein solches Kränzlein zu flechten, muß man allerdings etliche Kapitel aus der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie als Bewertungskriterium gewissermaßen ausblenden. Das gilt offenbar für die – von den Leonhards behandelte – Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den von der damaligen kaiserlichen Regierung beantragten Kriegskrediten am 4. August 1914. Die SPD machte damit aktiv den Weg mit frei für das bis dato größte Gemetzel der Weltgeschichte und lieferte im übrigen gleich nach Kriegsende weitere unrühmliche Kapitel ihrer Parteigeschichte ab – vor allem mit der Verstrickung der SPD-Führung unter Friedrich Ebert und Gustav Noske in die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Januar 1919 und mit der blutigen Niederschlagung der Münchner Räterepublik, bei der Noske als Reichswehrminister an der Spitze der Befehlskette stand. Beides findet im Geschichtsüberblick der Leonhards keinen Niederschlag.
Wem dies zu »olle Kamellen« sind, für den sei noch auf ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte verwiesen – den sogenannten Radikalenerlaß von 1972, auf dessen Grundlage Menschen, die linken Organisationen wie der DKP oder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten (VVN/BdA) angehörten, aus dem Öffentlichen Dienst entfernt oder zu diesem gar nicht erst zugelassen und damit praktisch mit Berufsverbot belegt wurden. Der Bundeskanzler hieß damals Willy Brandt. Dieses Kapitel behandeln zwar auch die Leonhards und zitieren das spätere Verdikt Willy Brandts, daß der Erlaß, der die SPD viele Sympathien im Land gekostet hatte, ein »kardinaler Fehler « gewesen sei. In ihrem Gesamturteil macht dies die Autoren jedoch nicht wankend: »In ihrer (der SPD – W.S.) 140jährigen Geschichte finden sich keine Spuren von Unrecht oder Unfreiheit.«
Gleichwohl scheuen die Autoren dort, wo sie sich mit dem aktuellen Niedergang der SPD und seinen Ursachen auseinandersetzen, klare Worte keineswegs – etwa wenn sie konstatieren, »daß die deutsche Sozialdemokratie – obwohl sie das Gegenteil behauptet – vor lauter Taktiererei die Orientierung verloren hat«, oder daß die »Personalauswahl der Partei weder transparent noch effektiv« sei. Allerdings bleibt die Ursachenanalyse auf halber Strecke stehen. So wird zwar zutreffend festgestellt, daß es Schröder mit der Agenda 2010 um den »Abschied vom Sozialstaat« ging. Der ist mit der Hartz-IV-Gesetzgebung und ihren sozialen Auswirkungen für Millionen von Menschen in der Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit im Lande auch gelungen. Zugleich aber verstellen die Autoren den Blick dafür, daß darin eine der Hauptursachen für den Niedergang der SPD liegen dürfte, wenn sie schreiben, Ziel der Agenda 2010 sei es gewesen, »den Menschen zu ermöglichen, aus eigener Kraft … ihr Leben zu finanzieren«, ohne zugleich festzuhalten, daß die Politik der SPD eben nicht zu den dafür notwendigen Millionen von neuen Arbeitsplätzen geführt hat. Ganz unter den Tisch fallen lassen die Autoren gar den Sachverhalt, daß die Regierung Schröder in diesem Zusammenhang eine der gravierendsten wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik zu verantworten hat – die Steuerfreistellung der Veräußerungsgewinne von Kapitalgesellschaften. Nicht nur hat die damit intendierte massenhafte Schaffing neuer Arbeitsplätze nicht stattgefunden, viel mehr wurden dem wuchernden Kasino-Kapitalismus, der die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise verursacht hat, so zig zusätzliche Milliarden zugeleitet. Die Autoren aber zitieren unwidersprochen einen namhaften Sozialdemokraten, der da meint, die SPD sei »eine Partei, die weiß, wie Wirtschaft funktioniert«. Dem ist denn doch nichts mehr hinzuzufügen.
P.S.: Die »Queen of Crime«, die britische Krimi-Autorin P. D. James, äußerte jüngst auf die Vermutung, ihr neuestes Buch könnte ihr letztes sein: »Es ist tatsächlich möglich, daß nichts mehr kommt. Ich werde schließlich 89. Mir ist es wichtig, daß ich das Niveau halte. Es gibt zu viele Beispiele von Autoren, die weitergeschrieben haben, obwohl sie es besser nicht getan hätten.«

Elke Leonhard, Wolfgang Leonhard: Die linke Versuchung. Wohin steuert die SPD?, be.bra verlag Berlin 2009, 199 Seiten, 19,90 Euro