von Ines Fritz
Romy ist einer von ihnen und 45 Jahre alt. Er lebt seit 1980 in der Bundesrepublik. Aufgewachsen ist er in einem kleinen Dorf in Brandenburg, nahe Berlin. Kein Industriestandort, irgendwo in der DDR. 1972 floh sein Vater »innen Westen«, um bei Volkswagen Späne aus den Bohrmaschinen zu kehren und Kühlwasser nachzufüllen, »für das Bruttosozialprodukt«, erklärt Ronny mit vor Begeisterung leuchtenden Augen. Mit 21 folgte er seinem Vater und ist »rüberjemacht«, über Bautzen, er hatte »Ärjer mit de Stasi«.
Ich sitze in dem aufgeräumten Wohnzimmer und blicke auf einen mit Blümchenmusterfolie beklebten Multifunktionstisch. Ronnys Frau und seine Schwiegermutter versorgen mich mit Albrecht-Kaffee und Katzenzungen, während zwei seiner drei Kinder sich um die Fernbedienung streiten. Ronny ist seit acht Jahren arbeitslos und lebt derzeit von Hartz IV. Wie es weitergehen soll, frage ich ihn. »Keenen Schimma«, sagt er, »vielleicht werde ich Schigolo«. Und er grinst breit. Aber außer ihm will das niemand.
Ronny hat viele Probleme, keine Arbeit, wenig Geld, Probleme mit seiner Frau, mit seiner Sparkasse, mit Unterhaltsforderungen seiner Kinder aus erster Ehe und vor allem mit der Staatsanwaltschaft, denn er drückte nach der letzten Gerichtsverhandlung den Staatsanwalt an die Wand des Gerichtsflures und bedrohte ihn lautstark. Er hatte die Überwachungskamera vergessen. »Dieser Wendehals«, dröhnt er, »will mich ausbluten lassen.« Und weiter, mittlerweile in Rage: »Ich habe aba selba nix.« Sein ältester Sohn ist das, was man als »Neonazi« bezeichnet, der etwas jüngere Bruder ist gerade von der Hauptschule geflogen.
Auch sie scheinen »selba nix« zu haben. Sie alle fühlen sich unverstanden, diskriminiert, fremd – und ja, auch einsam.
Viele Ostdeutsche, vor allem die mit geringerer Bildung, wurschteln sich im Westen als »Zonenklaus«, .der den Dreck wegmacht, oder als Witzfigur durch. Vielen Einwanderern blieb – besonders in den vergangenen zwei Jahrzehnten – gar nichts anderes übrig, als sich eine Identität in einer Subkultur zwischen Broiler, Jugendweihe und MDR zu suchen. Vielen dieser ostdeutschen Immigranten ist es fast unmöglich, aus dieser Subkultur auszubrechen. Die Immigranten arbeiteten, heirateten untereinander (manchmal auch Westdeutsche), fälschten Lebensläufe, katzbuckelten und verbrachten ihre wenige Freizeit unter ihresgleichen in der »Zone«, sprachen fast ausschließlich ostdeutsch und bauten sich mit Ostalgie eine parallele Existenz auf. Irgendwann wollen fast alle in die Heimat zurückkehren, spätestens mit Hartz IV.
Im Laufe der Zeit bekamen jedoch auch einige der Wenigergebildeten stabil bezahlte Arbeit, wurden heimisch und holten ihre Familien nach. Doch trotzdem wurde diese erste Generation der Neubürger nicht einmal ansatzweise in die Gesellschaft integriert; wie konnte man erwarten, die zweite Generation würde sich quasi automatisch integrieren?
Zudem wurden die ostdeutschen Neubürger von Presse und Politik stigmatisiert – unter Inkaufnahme all der damit entstehenden neuen Probleme. Und diese Probleme wiegen durch die herrschende Arbeitsmarktsituation immer schwerer. Am Unwillen der Neubürger allein kann es nicht liegen, daß alle Bemühungen einer Integration gescheitert sind. Aber die eigentliche Frage, die man stellen muß, bleibt unbeantwortet: Was machen wir mit der nächsten Generation Ossis?
Es kommt immer wieder die Klage auf: Wie konnten unsere Politiker an der Integration der Ossis in den goldenen Westen nur so katastrophal scheitern? Alle Bemühungen des Staates scheinen ins Leere zu laufen. Die Heerscharen von Sozialarbeitern, Kontaktpolizisten, Gerichtshelfern und ARGE-Mitarbeitern, die solche Familien betreuen, scheitern schon an den Sprachkenntnissen ihrer Schützlinge; sie werden schlichtweg nicht verstanden – das scheinen sie nicht zu wahrzunehmen.
Auch all die Formulare, die Broschüren und Anträge landen bei diesen Familien oftmals ungelesen in der Ablage. Die Eingliederungsmaßnahmen, die telemedialen Sprachkurse (von Oliver Geissen bis Britt) scheinen am Intellekt der Ossis zu scheitern. Die Einwanderer sehen sich der selbstreferentiellen Dynamik einer Subkultur ausgeliefert, die keine eigene Identität zuläßt. Mittlerweile in der zweiten Generation. Einerseits werden sie diskriminiert und in Wohnsilos zusammengefaßt, andererseits müssen sie sich den Regeln einer Subkultur unterwerfen. Darum fahren sie kleine, stinkende Autos, sprechen undeutlich und tragen Dauerwellen und grelle Klamotten.
Ihre Kinder haben fast keine Chance auf Bildung und somit ein gutbürgerliches Leben. Sie sehen auch nur selten besser aus, sind nicht klüger oder wenigstens ehrgeiziger. Und die Kinder sind es, um die wir uns dringend kümmern müssen – bei den nicht integrierten Erwachsenen ist zumeist Hopfen und Malz verloren. Bemüht man die Statistik, so stellt man fest, daß derzeit über 32 Millionen Bürger ihre Wurzeln in anderen Kulturen haben. Bei einer Geburtenrate von ein bis drei Kindern pro Familie fragt man sich doch bange, was passiert, wenn auch diese Generation nicht in der Bundesrepublik ankommt?
Als Ronny noch Arbeit hatte – bei Opel im Lager – war sein Leben in Ordnung. »Ich war fast ein Wessi! Keene Probleme«, freut er sich ein wenig sentimental, »ich hatte Geld für Kondome, ’ne schöne Plattenbauwohnung-West, sogar eigene Schulbücher für die ›Kleenen‹ waren drin … ohh … was war ich ein glücklicher Mann.«
Er erzählt mir von seinem tollen Leben als Ossi, von der Mauer, der FDJ, von seinen Eltern, seiner Verwandtschaft, von damals … Und von seinem Opa, der Vorarbeiter bei IG Farben war. Über das Heute redet er wenig – und wenn, spüre ich die Wut in ihm hochsteigen. Romy ist mittlerweile blind für blühende Landschaften. Bei ihm blüht nur die Phantasie.
Als ich mich verabschiede, schaut er mir tief in die Augen, haut mir auf die Schulter und sagt kämpferisch: »Keine Sorge, wir sind ein Volk!« Und mir wird wieder ein bißchen mulmig.
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