Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 8. Juni 2009, Heft 12

Streit auf der Titanic

von Uri Avnery,Tel Aviv

Einer der glücklichsten Augenblicke meines Lebens ereignete sich in einem Restaurant. Es war vor der zweiten Intifada. Ich hatte Rachel eingeladen, um ihren Geburtstag mit einem Abendessen in einem berühmten Restaurant in Ramallah zu feiern. Wir saßen im Gartenrestaurant unter bunten Lichtern, die Luft war voll Blumenduft, und die Kellner eilten mit vollen Tabletts hin und her. Wir aßen Mussakhan, das palästinensische Nationalgericht, (Hähnchen mit Tahini gebacken auf Pita), und ich trank ein Glas Arrak. Unser Kellner hatte uns reden gehört und nahm unseren Wunsch auf Hebräisch entgegen. Wir waren die einzigen Israelis dort. An den benachbarten Tischen saßen mit ihren Kindern arabische Familien in ihren besten Kleidern, auch eine Braut mit ihrem Bräutigam und ihren Gästen. Gelächter mischte sich mit dem Murmeln arabischer Gespräche. Es herrschte Hochstimmung. Ich war glücklich, und ein Seufzer der Erleichterung entschlüpfte meinem Munde: »Wie wunderbar könnte dieses Land sein, wenn wie nur Frieden hätten!«
Ich denke jedes Mal an diesen Augenblick, wenn ich traurige Nachrichten aus Ramallah höre. Die Nachrichten von dort sind deprimierend, aber die Erinnerung hilft mir, die Hoffnung lebendig zu halten, daß die Dinge sich ändern könnten. Die deprimierendsten Nachrichten betreffen die Uneinigkeit der Palästinenser selbst. Diese Spaltung ist eine Katastrophe für sie – und ich glaube – auch für Israel und die ganze Welt.
Es ist leicht, Israel die Schuld zu geben. Es ist leicht, aber auch gerechtfertigt. In ihrem Kampf gegen die nationalen Bestrebungen der Palästinenser haben die aufeinanderfolgenden israelischen Regierungen die alte römische Taktik des divide et impera, des »Teile und herrsche!« angewandt. Seit dem Oslo-Abkommen ist es die zentrale Komponente dieser Politik gewesen, die physische Trennung zwischen der Westbank und dem Gazastreifen voranzutreiben. Artikel X des Anhangs 1 des Interim-Abkommens vom September 1995 lautet: »Es wird für Personen, Fahrzeuge und Waren eine sichere Verbindung geben, die die Westbank mit dem Gazastreifen verbindet … Israel wird für eine sichere Durchfahrt für Personen und den Transport (von Waren) während des Tages sorgen … auf jeden Fall nicht weniger als 10 Stunden pro Tag.«
In der Praxis wurde die sichere Passage nie eröffnet. Unter allen offensichtlichen Verletzungen des Oslo-Abkommens war dies die schwerwiegendste. Ihre Konsequenzen waren für beide Seiten katastrophal.
Es wurde zwar viel über eine Passage gesprochen: Ehud Barak phantasierte über den Bau einer gigantischen Brücke zwischen der Westbank und dem Gazastreifen, nachdem er irgendwo im Ausland eine vierzig Kilometer lange Brücke gesehen hatte. Andere sprachen von einem Tunnel unter israelischem Gebiet. Wieder andere schlugen eine exterritoriale Schnellstraße oder Eisenbahnverbindung vor. Keine dieser Ideen wurde jemals in die Praxis umgesetzt. Im Gegenteil. Während es vor Oslo Bewegungsfreiheit für alle gab, einschließlich der Bewohner der besetzten Gebiete, war es – nach Oslo – mit dieser Freiheit vorbei. Sie war aufgehoben.
Nach den letzten palästinensischen Statistiken, die verläßlich scheinen, leben jetzt 2,42 Millionen Palästinenser in der Westbank und 1,4 Millionen im Gazastreifen (zusätzlich der 379 000 in Ost-Jerusalem). Von Yasser Arafat hörte ich einmal, daß mehr als die Hälfte der Ressourcen der Palästinensischen Behörde für den Gazastreifen bestimmt seien, trotz der Tatsache, daß der Streifen nur sechs Prozent der palästinensischen besetzten Gebiete darstellt. Nun bestehen tatsächlich zwei palästinensische Entitäten: die Westbank, deren aktuelle Hauptstadt Ramallah ist, und der Gazastreifen mit seiner Hauptstadt Gaza-Stadt. Die israelische Regierung führt zwei verschiedene Strategien gegen die beiden palästinensischen Entitäten durch.
Die ägyptische Regierung arbeitet mit der israelischen Armee zusammen, indem sie die Blockade gegen die Bewohner des Gazastreifens vollstreckt. In letzter Zeit hat sie diese Bemühungen noch verstärkt, indem sie die wichtige Versorgungslinie durch die Rafahtunnel abgewürgt hat (»Schmuggel« heißt das in israelischer und ägyptischer Sprachregelung). Die Kampagne, die vor kurzem durch die ägyptischen Behörden gegen Hisbollah-Agenten im Sinai begann, hat unter anderem das Ziel, diese Versorgungslinie abzuschneiden.
Gegen die Palästinensische Behörde in der Westbank wenden die Besatzungsbehörden eine andere, aber nicht weniger zerstörerische Strategie an. Sie geben sich große Mühe, sie als eine Art palästinensisches Vichy-Regime darzustellen, um zu verhindern, daß die palästinensische Spaltung heilt.
Die israelische Regierung erklärt dies offen und laut. So wunderte sich der Generalstabschef Gaby Ashkenasi öffentlich darüber, wie der palästinensische Justizminister vor dem Internationalen Gerichtshof Israel wegen in Gaza begangener Kriegsverbrechen verklagen konnte. Wie kommt es, beklagte sich Ashkenasi, da es doch während des Gazakrieges solch enge Zusammenarbeit zwischen Israel und der Palästinensischen Behörde gegeben habe? Mit anderen Worten: Der Generalstabschef der israelischen Armee erklärt öffentlich vor dem palästinensischen Volk und der ganzen Welt, daß die Palästinensische Behörde in Ramallah mit der israelischen Regierung im Krieg gegen die palästinensischen Brüder im Gazastreifen zusammen gearbeitet habe, in dem – laut Justizminister in Ramallah – systematisch Kriegsverbrechen begangen wurden. Einen noch schwereren Schaden für die Stellung Mahmoud Abbas’ kann man sich kaum vorstellen.
Kürzlich erzählte mir ein Freund von einem Gespräch, das er mit einem Beamten aus Ramallah hatte. Wenn Israel den Iran angreife, wird das Hamasregime im Gazastreifen stürzen, sagte er mit großer Begeisterung.
Für einen Außenstehenden ist dies unbegreiflich: Wenn sich das ganze palästinensische Volk gegenüber einer Gefahr seiner bloßen Existenz sieht, wenn die israelische Regierung unermüdlich daran arbeitet, daß ein palästinensischer Staat nicht zustande kommt und eine wachsende Gefahr besteht, daß das palästinensische Volk schließlich ganz aus Palästina vertrieben wird, da erscheint die Spaltung wie ein Streit auf der Brücke der Titanic. Es gibt ein altes jüdisches Sprichwort, das besagt, daß die Zerstörung des Tempels (im Jahre 70 AD) vom gegenseitigen Haß verursacht wurde. Als die Römer Jerusalem schon belagerten, verbrannten die verschiedenen jüdisch-zelotischen Fraktionen in der belagerten Stadt sich gegenseitig die Lebensmittelvorräte. Unter den Palästinensern geschieht jetzt etwas ähnliches.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, von der Redaktion gekürzt