von Kaspar Hauser
10. August: Das für heute früh 8.30 Uhr angesetzte Chaos ist durch eine Notverordnung der Regierung auf morgen verschoben worden.
11. August: Heute 8.30 Uhr ist das Chaos ausgebrochen (Siehe auch Letzte Nachrichten). Das Chaos wurde durch eine Rede des Reichskanzlers sowie durch einen kurzen, kernigen Spruch des Reichspräsidenten Hindenburg eröffnet. Der preußische Ministerpräsident Braun führte in seiner Chaos-Rede aus, daß Deutschland auch fürderhin …
Das bayerische Chaos brach erst um 9.10 Uhr aus.
Die Reichsbank nahm eine abwartende Stellung ein.
12. August: Heute hat das Reichs-Chaos-Amt seine Arbeit angetreten. Jedes Chaos (sprich: Chaos) bedarf demnach einer besonderen Chaos-Ausbruchs-Genehmigung durch das Reichs-Chaos-Amt, einer Nachprüfung durch das Reichs-Chaos-Nachschau-Amt sowie durch die einzelnen Chaos-Landesämter. Die Reichsbank nimmt vorläufig eine abwartende. Haltung ein.
13. August: Das Chaos ist nunmehr überall definitiv ausgebrochen.
Ein reizender Vorfall wird aus Eßlingen (Württemberg) bekannt. Der dortige Bürgermeister hatte verabsäumt, die Verfügungen des Reichs-Chaos-Amts zur Durchführung zu bringen, und so wußten die guten Eßlinger noch bis gestern abend überhaupt nichts von dem Chaos und gingen ihrer Tätigkeit (Nichtauszahlung von Gehältern sowie Vertröstung der Gläubiger untereinander) mit rührendem Eifer auch weiterhin nach. Erst ein Funkspruch der württembergischen Chaos-Regierung machte diesem Zustand ein Ende. Das Backen von Chaos-Spätzle ist bis auf weiteres verboten.
14 August: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat heute zu den Vorgängen einen bedeutungsvollen Entschluß gefaßt. Die Partei ermächtigt danach die Fraktion, den Ältestenrat des sogenannten Reichstages zu ersuchen, bei der Reichsregierung dahin vorstellig zu werden, daß die Regierung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dahin wirken möge, den § 14 des Chaos-Gesetzes abzumildern. Die Partei würde sich sonst andererseits genötigt sehn, wieder in die Opposition zu gehen.
Der Entschluß ist deshalb so bedeutungsvoll, weil wir aus ihm zum ersten Mal erfahren, daß es in Deutschland eine Sozialdemokratische Partei gibt, und daß diese Partei jemals in der Opposition gestanden hat.
Die Reichsbank wird sich vermutlich abwartend verhalten.
15. August: (Leitartikel) »… fest, aber entschieden gemäßigt. Was wir nun zum Nutzen der gesamten Weltwirtschaft, deren Augen gespannt auf Deutschland gerichtet sind, brauchen, ist Ruhe und Ausdauer. Es muß durch das Chaos durchgehalten werden! Reichskanzler Brüning wird auch im Chaos die Geschäfte weiterführen; in den Etat-Positionen, insbesondere denen der Reichswehr, treten zunächst keine Änderungen ein. Daß der Kanzler sich persönlich von der ordnungsgemäßen Durchführung des Chaos überzeugt, begrüßen auch wir, insbesondre, daß er gestern in einigen Berliner Kaufläden erschien, um sich zu informieren. In der Lebensmittelhandlung von Grote setzte sich der Kanzler dabei versehentlich auf eine Waage. Die Deutsche Staatspartei wird auch weiterhin das Zünglein an der Waage bilden. Daß sich die Reichsbank dabei abwartend verhält, bedarf keiner Erwähnung.«
16. August: Es wird vielfach angenommen, daß im Chaos die Vorschrift, wonach Frischeier einer Genehmigung der Reichs-Eier-Absatz-Zentrale zum Tragen einer Banderole sowie zur Benutzung des Adlerstempels durch den Reichs-Milch-Ausschuß im Benehmen mit der Zentrale zur Aufzucht junger Hähne bedürfen, aufgehoben ist. Das ist irrig. Die Vorschrift bleibt selbstverständlich auch weiterhin in Kraft. Sehr aktuell wird sie allerdings nicht sein. Es gibt keine Eier.
17. August: In den städtischen Fürsorgeanstalten wird ein besonderer Chaos-Prügeltag eingelegt …
18. August: Nach der neuesten Chaos-Verordnung ist es verboten, Devisen-Kurszettel zu veröffentlichen. Es dürfen lediglich die ausländischen Börsennamen mit den dazu gehörigen Barometer-Zahlen angegeben werden.
19. August: (Zuschrift eines Lesers) … »denn doch zu weit mit dem Chaos! Meine Frau und meine Schwägerin gingen gestern abend über den Wittenbergplatz, und war es ihnen nicht möglich, in die dortige Bedürfnisanstalt für Damen Einlaß zu bekommen, da die Aufsichtsfrau offenbar einmal fortgegangen war, um in einer nahen Restauration ein Glas Bier einzunehmen. Als Kriegsteilnehmer und Familienvater frage ich namens aller Gleichgesinnten: Ist das noch ein Chaos?«
20. August: Zu der Verfügung über die Vertilgung von Ungeziefer in Wohnungen unter sechs Zimmern ist noch nachzutragen, daß Schrotschüsse auf Wanzen nur von ½ 11 Uhr morgens bis ¾ 1 mittags statthaft sind. Es empfiehlt sich, in den anderen Tagesstunden die Wanzen mit einem Tischmesser zu zerspalten. Auch die Spaltung des rechten Flügels der linken Opposition der Stennes-Gruppe ist nunmehr Tatsache. Hitler hat Südtirol sowie sich definitiv aufgegeben. Die Reichsbank verhält sich abwartend.
Die Großbanken haben beschlossen, anstatt der am 1. September fälligen Gehaltszahlung von jedem Angestellten einen Monatsbeitrag von 35 RM einzufordern. Die Einzahlung dieses Arbeits-Erlaubnis-Geldes auf städtische Sparkassen ist erlaubt.
Die Berliner Studentenschaft hat gestern anläßlich des zehnten Chaos-Tages gegen den Westfälischen Frieden sowie gegen alle noch kommenden Friedensschlüsse protestiert. Vier Polizeibeamte sowie die akademische Würde wurden leicht verletzt. Der Schnelirichter wurde Hitler vorgeführt.
21. August: Leichtes Chaos, bei starken südwestlichen Winden.
Der Bildungsausschuß der SPD hat nunmehr gegen die parteischädigenden Auswüchse der Asphalt-Literaten protestiert. Die Partei als solche ist allerdings aufgelöst.
23. August: Der Titel des Konfusionsrats Dr. Schacht ist in den eines Ober-Chaos-Rats abgeändert worden.
24. August: Gestern wurde in den Straßen Schönebergs eine Reichsmark gesehn. Es handelt sich vermutlich um eine Irreführung des Publikums, und wir machen nochmals darauf aufmerksam, daß es gegen die staatspolitischen Interessen ist, wenn sich in Deutschland noch irgendwelches befindet. Wenn auch das Ausland nicht hinsieht: Wir werden es ihm schon zeigen! Die Reichsbank verhält sich abwartend.
25. August: Wie wir hören, hat sich die Bridgepartie von Jakob Goldschmidt aufgelöst. Er kann das ewige Abheben nicht mehr vertragen.
26. August: Die Ziffer 5 des § 67 der Wiederaufnahme-Verfügung der Aufhebung der Rückgängigmachung des Verbotes von Rücküberweisungen alter Postscheckzahlungen nach Haiti wird in Gemäßheit des § 10, II, 17 des Allg. Landrechts aufgehoben beziehungsweise wieder in Kraft gesetzt. Unsere Voraussage ist demnach eingetroffen: Das Chaos unterscheidet sich in nichts von dem vorherigen Zustand –!
Aus: »Die Weltbühne«, 4. August 1931
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