Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 22. Juni 2009, Heft 13

Bemerkungen

Haydns Orlando

Das Gedenken an seinen 200. Todestag rückt Joseph Haydn dieses Jahr erfreulich in die Mitte musikkultureller Aktivitäten. Sonst steht er gegenüber Mozart und Beethoven, seinen Wiener Klassikerkollegen, im Hintergrund. Nun wird – sicher nicht zum ersten Mal – bewußt, was von Haydn in Archiven verstaubt und wieder entdeckt werden muß. So sind seine Opern bis heute weitgehend unbekannt geblieben, obwohl Haydn über Jahrzehnte als Kapellmeister des Fürsten Esterhazy für reges Musiktheater gesorgt hat. Sechzehn eigene Opern sind erhalten. Daß die Berliner Staatsoper eine dieser vergessenen Bühnenarbeiten herausbrachte, wurde daher zum Jubiläumsereignis. Denn in Koproduktion mit den Innsbrucker Festwochen und dem Freiburger Barockorchester unter Rene Jacobs erlebte Haydns »Orlando Paladine« hier eine beachtliche »Reprise«, seit 1798 (!).
Das »Dramma eroicomico« (nach Ludovico Ariosto) schwebt zwischen Ernstem und Heiterem, nimmt Heldenpathos der überlieferten Opera seria parodistisch aufs Korn. Es geht um den Ritter Orlando, der, in leidenschaftlicher Liebe zur adligen Angelica entbrannt, umherirrt, um seinen Nebenbuhler, den zaudernden Medoro, in heldenhaftem Kampf zu besiegen. Sein wütender Gegenheld Rodomonte, als Pirat mit Krücke auftretend, ist ein irrer Prahler und Möchtegernheld. Das Buffopaar Eurilla und Pasquale (Knappe Orlandos) findet in komischem Wechselspiel zueinander. Als Drahtzieherin des Ganzen wirkt die Zauberin Alcina.
Die Story ist verwickelt, umständlich, überlang und schwer zu durchschauen. Hilfreich sind da Bühne, Kostüme und Regie von Nigel Lowery sowie die Choreographie von Amir Hosseinpour. Ein mittelalterliches Ritterschloß nebst Wappensaal und umgebendem Tannenwald sind effektvoll komische Schauplätze des chaotischen Umherirrens und witzelnden Pointierens. Aber vor allem köstlich ist die oft dominierende Musik, die Haydn als phantasievollen Opernkomponisten ausweist. Musikalisch werden dramaturgische Schwächen überdeckt. Amüsant wirkt die Ironie des Heroisch-Komischen, wodurch Heldenhaftes lächerlich gemacht wird.
Faszinierend ist eine unverkennbare Nähe zu Mozarts »Don Giovanni« und »Zauberflöte«. Deutlich wird: Haydn befand sich mit seinem früher, bereits 1782, entstandenen »Orlando« kompositorisch auf der Höhe seiner Zeit. Dann ist auch der verborgene Ernst dieser Oper zu entdecken: Es wird nicht nur eine Geschichte von Liebe und Eifersucht, Sieg und Niederlage erzählt, sondern auch um eine Wendung zum Menschlichen gerungen. Eine Menschenwürde, die Zorn und Aggression vergessen macht.
Rene Jacobs sieht hier die Welt der Freimaurer präsent und glaubt in Haydns »Orlando Paladino« ein Aufklärungsmärchen zu erkennen (Programmheft). Seine Interpretation schien von solchem Geist durchdrungen: Man erlebte eine Aufführung der eleganten Leichtigkeit, klangschön in bezaubernder Ausstrahlung des Orchesters wie des vorzüglichen vokalen Solistenensembles.

Liesel Markowski

Analogistik

Die Begräbnisversicherung, die mir jeden Monat mehrmals angeboten wird, lohnt sich nur, wenn ich demnächst sterbe, und dann nicht für mich, sondern für Leute, die mich sowieso beerben. Also kommt sie für mich nicht in Frage. Als mir ein Bank(sogenannter)mensch Zertifikate von Lehmann Brothers aufschwatzen wollte, habe ich abgelehnt. Angebote eines Lotterieunternehmens, die mir fortgesetzt ins Haus flattern und sicheren, hohen Gewinn in Aussicht stellen, vertraue ich ohne Zögern dem Papierkorb an. Ein sich als Arzt bezeichnendes Individuum, das mir unentwegt Pillen anbietet, die meine Gelenkschmerzen im Nu verschwinden lassen, erhält von mir keine Antwort. Dank eines angeborenen Mißtrauens und übler Erfahrungen glaubte ich mich gefeit gegen solche. und andere Übeltaten gesellschaftlichen Unwesens. Aber man kann sich noch so schlau vorkommen und noch so vorsichtig sein, den häßlichen Tricks von getarnten Bösewichten mit hohem Sozialstatus entgeht man einfach nicht.
Ich bin jetzt beim Käse reingefallen und teile dies Mißgeschick gewiß mit der übergroßen Mehrheit lebenserfahrener Käseesser. Ein Fernsehmagazin hat enthüllt, daß Hersteller Käse produzieren, Käse, den der Handel als Käse vertreibt und die Lebensmittelindustrie als Käse verarbeitet und der gar kein Käse ist. Dieses Zeug wird nicht aus Milch hergestellt. Es besteht aus Eiweißpulver, Wasser, Pflanzenfett und Geschmacksverstärker. Die Entdecker dieses Schwindels nennen das Imitat »Analog-Käse«. Die Schwindler nennen es aber weiterhin Käse. Analog-Käse ist also etwas, was als Käse verkauft wird, aber kein Käse ist.
Solche Analog-Dinge, die als etwas verkauft werden, was sie nicht sind, sind ja gang und gäbe: Wahlversprechen, Grundsatzreden, Rentenerhöhungen, Preissenkungen, Amtseide. Doch das sind alles Dinge, an die sowieso keiner glaubt, selbst wenn sie der Wahrheit entsprechen. Da gelingt die Täuschung derer, auf die gezielt wird, eher nicht. Aber dort, wo Treu und Glauben noch vorstellbar sind, wird das Mißtrauen immer mal wieder eingelullt. Mit Treu und Glauben läßt sich am besten bescheißen.
Wie beim Verkauf von Käse.

Günter Krone

Typische Vaterfigur

Im historischen Kostüm, wie dem des Königs im DEFA-Märchen von der Gänseprinzessin, sah man Eberhard Mellies viel zu selten. Denn seine Stärke – und das machte ihm so überzeugend kaum einer nach – waren die Alltagsmenschen. Er konnte ihnen Profil geben, den überforderten Abteilungsleitern und schwankenden Genossenschaftsbauern, den geradlinigen Bürgermeistern und vigilanten Betriebsdirektoren. Weit über einhundert Film- und Fernsehrollen wurden es, nachdem sich Eberhard Mellies 1969 entschieden hatte, vom Volkstheater Rostock ins Ensemble des Deutschen Fernsehfunks zu wechseln. Seine seriöse Ausstrahlung, die manchmal ins Ruppige umschlagen konnte, verleitete die Regisseure, ihn immer wieder als Leiter in Filmen einzusetzen, die gesellschaftliche Probleme thematisierten. In Blütenstaub, einem der ersten »Polizeirufe« – noch immer gern bei mdr und rbb wiederholt – spielte er als Funktionär sehr differenziert den ungewollt ungerechten Vater eines jungen Burschen, den Henry Hübchen darstellte. Eine (allzu) typische Vaterfigur der DDR war Mellies auch in seinem letzten DEFA-Film. Der Chefredakteur in Der Strass gibt sich väterlich und verrät doch die Interessen seines Schützlings, scheint äußerlichen Zwängen zu gehorchen und spielt nur Souveränität, damit alle an ihn glauben. Der Film von Andreas Höntsch, der in einer gewandelten DDR gedreht und erst nach ihrem Ende 1991 uraufgeführt wurde, fand kein so breites Publikum, wie er verdient hätte.
Ebenso erging es ein Vierteljahrhundert zuvor Günter Stahnkes Der Frühling braucht Zeit, in dem Eberhard Mellies einen parteilosen Ingenieur spielt, dem eine Havarie angelastet wird. Der wahre Schuldige ist jedoch der karrierebesessene, opportunistische Genosse Betriebsdirektor, dargestellt von Günther Simon. Dieser Film, der wichtige Diskussionen anstoßen konnte, wurde Ende 1965 nach kurzer Laufzeit aus den Kinos entfernt.
Seit rund zehn Jahren hat sich Eberhard Mellies, der zu Monatsbeginn seinen 80. Geburtstag gebührend feierte, auf dem Bildschirm leider allzu rar gemacht. Wenigstens hören wir seine sonore Stimme noch ab und an in neueren Hollywood-Streifen, denn wer in seinem Leben mehr als tausend ausländische Filme synchronisiert hat, der kann davon nicht so schnell lassen.

F.-B. Habel

Letzte Meldung

Im angesagtesten Park der Stadt: Ein Jogger, 56, sonst kaffeetrinkender Bürohocker, rannte an einer Bank, besetzt mit Jugendlichen, vorüber. Mit einer verkrampft-hysterischen Schelmigkeit lachte er ihnen entgegen: »Ihr werdet nicht alt.« Fünfzig Meter weiter fing der Mann zu straucheln an, siebzig Meter weiter fiel er zu Boden, Herzinfarkt, tot.

Paul

Traurige Sachlichkeit

Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall streiten sich deutsche Heldenstädte, in welche das Heldendenkmal gehört. Irgendwie verständlich und irgendwie aber doch auch von peinlicher Kleinlichkeit, aus einem Jubiläum noch einmal Glanz aus dem zu beziehen, das finaler Anfang vom finalen Ende der DDR war.
Ende 1989, das wird hierzulande auch zwei Jahrzehnte danach noch immer unterbelichtet, ist aber mehr über den Jordan gegangen als die DDR. In schöner Gleichzeitigkeit – jedenfalls historisch gesehen – gingen auch die anderen Staaten des scheinbar so ehernen sozialistischen Lagers perdu.
György Dalos’ Buch »Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa« nun hat jenen großen geschichtlichen Atem, dem die Mehrzahl der kleinkarierten deutschen Fixiertheiten auf die Abrechnung mit dem Leichnam DDR nach wie vor fehlt, zumeist jedenfalls.
In sieben ebenso knappen, wie streng auf sachlicher Faktenlage gründenden Analysen vollzieht Dalos die Endphase der Volksrepubliken Polen, Ungarn, Bulgarien, ČSSR, und Rumänien, und die von DDR und aller Überväterchen UdSSR nach.
Daß Dalos die Warschauer Vertragsstaaten en block als Diktaturen sieht, sollte – hoffentlich – heute keinen Linken mehr schrecken. Gemeinwesen, in denen die Alleinherrschaft einer einzigen Partei auf Lebenszeit sogar grundgesetzlich festgeschrieben ist, haben mit jener Demokratie, die sie fast allesamt in ihrem Namen führ(t)en, nun mal leider wenig zu tun.
Dalos geht den Gemeinsamkeiten des letztlich unvermeidlichen Abgangs des Realsozialismus in – bestenfalls – die historische Warteschleife ebenso nach wie den Unterschieden, wobei letztere, wer sich das heute vor Augen hält, schon mal ein Thema für sich wären.
Ganz im Unterschied zu den üblichen Sichtweisen – in Deutschlands Manstream sogar im Gegensatz – reduziert Dalos seine Betrachtung nicht auf das allobwaltende Opfer-Täter-Schema. Zwar nicht Sympathie, unübersehbar aber Empathie ist jener Fokus seiner Betrachtungsweise, die weinerliche Nostalgie ebenso ausschließt wie Geifer und Haßpredigten. Sehr lesenswert!

Hajo Jasper

György Dalo: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, C. H. Beck 2009, 266 Seiten, 19,90 Euro

Wirsing

Bei der Europa-Wahl hat Bündnis 90/Die Grünen auch im Beitrittsgebiet überraschend gut abgeschnitten. Vielleicht haben die Partei gerade enttäuschte Ex-DDR-Bürger gewählt, die den Politiker Michael Cramer im rbb-Inforadio mit folgender Aussage hörten: »Wir sind jetzt wiedervereinigt, aber die jahrzehntelange Spaltung muß wiederhergestellt werden!« Bald wird sich herausstellen, daß sich Herr Cramer nur versprochen hat, wie im Wahlkampf überhaupt zu viel versprochen wurde.

Fabian Ärmel