Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 8. Juni 2009, Heft 12

Bemerkungen

Mit Augenmaß

von Lotar Cibi

Herr Jedermann kauft nur zum Spaß
sich eines Tags ein Augenmaß.
Und mit besagtem Maß im Blick
mischt er sich ein in Politik.

Man hält ihn bald für kompetent,
wählt ihn sogar ins Parlament,
wo ihm – wie Andren auch – passiert,
daß er das Augenmaß verliert.

Herr Jedermann bemerkt ergeben:
Man kann ganz prächtig ohne leben.
Das Augenmaß ist ja nicht Pflicht!
Man hat es oder hat es nicht.

Der amputierte Vers

Das, bitte schön, sei festgehalten: Kein Germanist und kein Bohemist, kein Reich und kein Ranicki haben so viel für, die Erinnerung an Louis Fürnberg, der am 24. Mai hundert Jahre alt geworden wäre, getan wie die großen Rundfunk- und Fernsehanstalten. Im Sommer wie zu allen Jahreszeiten und Jahren werden wir es wieder zu hören bekommen, mit beißender Ironie in die Tonspur geschnitten, das fatale Marschlied: »Die Partei, die Partei, die hat immer Recht, und Genossen, es bleibet dabei!« Ja, die Genossen. Zweifellos haben viele Funktionäre und einfache Parteimitglieder aufrichtig daran geglaubt. Deshalb konnten die Regisseure der Massenkundgebungen, wahrscheinlich guten Gewissens, die Platte auflegen. Und da tönte es laut, gar nicht ironisch, sondern beschwörend über die Köpfe. Gewiß kein schönes Lied, kein bessres Lied, das da mal einer singen wollte. Um die Hirne der medialen Kunden nicht zu überfordern, wird nur noch die erste Zeile wiedergegeben. Somit ist der Zweck erreicht. Aber damals, in dem fernen Land, hat ja auch niemand richtig hingehört. Sonst hätten die heute Älteren wahrhaben können, was die heute Jüngeren nicht wahrhaben sollen: Daß der Autor das Rechthaben unter eine Bedingung gestellt hat. In der zweiten Sequenz heißt es nämlich: »Denn wer kämpft für das Recht, der hat immer recht, gegen Lüge und Ausbeuterei!« Und die Pointe des Ganzen wurde auch noch verfälscht. Fürnberg dichtete: »gegen Lüge und Heuchelei«. Hat die Partei, also die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands und ihr Führungspersonal, »für das Recht« gekämpft? »Gegen Lüge und Heuchelei«?
Der arme Louis, ein integrer, freundlicher Mann, der zwar auch politische Illusionen pflegte wie die gelben Rosen in seinem Garten in Weimar, dessen humanistische Gesinnung aber unverkennbar aus den Gedichten spricht. Hätte er geahnt, daß er der Gaul sein wird vor diesem und vor jenem Karren … So ist das Leben, »Hölle, Hall und Liebe«, wie einer seiner Lyrikbände heißt. Wer kann das noch auseinanderhalten?

Jens Grandt

Isolation

Ein Gefühl, als würde sich die Hirnrinde hochrollen, bemächtigt sich seiner. Pure Ekstase innerlich, äußerlich starr dasitzend, die Arme zur eigenen Bemutterung um sich geschlungen, blicklos blickend.
Die Substanz genießt er schon lange nicht mehr, er braucht sie; tiefe Beklemmung beherrscht ihn. Menschen ziehen vorüber, wie Schatten, wohl ahnend, was vor sich geht: Laufen, erfassen, Kopf zur Seite, weiter anstarren – keine Reaktion, von keinem – Kopf wieder nach vorn.
Wie im Traum harrt er aus, Erinnerungen an schöne Zeiten, an das, was früher schön, neu und deshalb begehrenswert war und sich jetzt wie Blei auf seinen Geist, auf seinen Körper und damit auf sein ganzes Leben gelegt hat.
Allein in der Menge, keinen Halt außer dem Holz der Bank in seinen Rücken gebohrt, kein Zurück, kein Vorwärts, nur aufrecht in der Zeit stehen bleiben, wenigstens aufrecht, ohne Ahnung, was außerhalb geschieht, und immer öfter mit dem Gern alle gegen mich, ich für mich und gegen alle.

Paul

Wie meinen?

Demokratie lebt von Meinungsbildung; was aber, wenn sich viele Menschen keine Meinung mehr bilden, weil die Welt des Geldes längst zu kompliziert geworden ist, um sie zu begreifen?

Cordt Schnibben im Spiegel

Und was, wenn das auf diverse andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ebenfalls zuträfe?

hwk

Woyzeck

Wir wurden in einen schwarzen Käfig gesperrt Publikum, Ensemble, Souffleuse; nur die Band musizierte auf dem Rang. Sitzplätze gab’s im Maxim-Gorki-Theater kaum, nur Bänke in Barhockerhöhe für wenige. Die vergitterte Zelle über Zuschauer- und Bühnenraum hinweg konnte einige nicht aufhalten. Schon nach kurzer Zeit waren sie müde der Art und Weise, wie sich Tilman Köhler der Büchnerschen Fragmente bedient hatte.
Kar1 Georg Büchner (17.10.1813 bis 2.2.1837) war einer der hellsichtigsten unter den deutschen Dichtem des 19. Jahrhunderts. Zweifelsohne sah er die Welt materialistisch, als Arzt, Naturwissenschaftler und als Autor. Sein »Hessischer Landbote«, eine revolutionäre Schrift, und sein Drama »Dantons Tod« belegen das: Theater war für ihn nicht primär moralische Veranstaltung, aufs Soziale, auf die materiellen Verhältnisse kam es ihm an. Und mit »Woyzeck« wollte er exemplarisch zeigen, wie diese einen Menschen verächtlich und verwerflich machten. Soviel scheint sicher – Büchner hinterließ kein fertiges Stück als er nach knapp einem halben Jahr Arbeit daran an Typhus starb.
Bringt man die hinterlassenen Fragmente nun im Theater zusammen, so kommt alles auf Regie, Team und Ensemble an, anderenfalls erschließen sich Inhalt und Absicht allenfalls durch vorherige Lektüre des Schauspielführers oder folgende des Programmheftes. Beides tat ich mit Gewinn. Denn die Inszenierung war eine ins Unverständliche zerdehnte, die Darstellung eine bis zur Langeweile zerwuselte, der Abend ein vermasselter.

Gerd Kurze

Medien-Mosaik

Veit Harlan (1899-1964) war der richtige Mann für Goebbels, ein kunstsinniger Regisseur mit künstlerischem Einfühlungsvermögen, dessen Selbstwertgefühl nur von seinem Ehrgeiz übertroffen wurde. Er bekam 1940 den Auftrag für einen der perfidesten Filme des »Dritten Reichs«, das antisemitische Hetzwerk »Jud Süß«. Auf einem historischen Sujet fußend, das auch Lion Feuchtwanger für seinen gleichnamigen Roman verwendete, wird von einem ebenso schmierigen wie frechen Juden erzählt, der den württembergischen Herzog ruiniert, die Bevölkerung an der Nase herumführt und eine junge »arische« Frau schändet, bevor er die verdiente Strafe erhält. Der Film wurde Wachmannschaften der SS vorgeführt, auf daß sie in den Lagern noch brutaler gegen Juden vorgehen und ihr Vernichtungswerk ohne Skrupel tun.
Nach dem Krieg wurde Veit Harlan zweimal wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit angeklagt und nach aufsehenerregenden Verhandlungen in der jungen Bundesrepublik freigesprochen.
Felix Möllers Film Harlan – Im Schatten von Jud Süß fragt nach der Familie Harlans aus zwei Ehen, Kindern und Enkelkindern, die dadurch geprägt wurden, daß in ihrer Familie ein Film zum Mordinstrument geworden war. Während Sohn Thomas mit seinem Vater brach, hielt Tochter Maria, die sich im Westen nach ihrer Mutter Körber nannte und in der DDR als Maria Buschhoff arbeitete, eher zum verfolgten Vater, bis sie mit schon siebzig Jahren erstmals Jud Süß sah und sich vor Ekel übergeben mußte. Enkeltochter Alice, die in Frankreich aufgewachsen ist, wurde als Kind vor der ganzen Klasse gefragt, ob sie etwa mit jenem Harlan verwandt sei. Damals stritt sie es vehement ab. Inzwischen hat sie sich mit ihrem Großvater auseinandergesetzt.
Moeller analysiert in Ausschnitten die Handschrift Harlans und seine unverkennbaren Wirkungsabsichten und liefert ein aufklärendes Zeitbild der Jahre des Faschismus, das bis in unsere Zeit weist.

Harlan – Im Schatten von Jud Süß, Edition Salzgeber, in ausgewählten Programmkinos

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Mit dem Buch für Fans der Olsenbande begann Mitte der neunziger Jahre die Renaissance der dänischen Filmhelden, die in einem neuen Film im Jahre 1999 gipfelte.
Zum 40. Jubiläum der Filmreihe hat Guido Herda ein neues, hervorragend farbig ausgestattetes Olsenbanden-Buch herausgegeben, das viel Neues enthält. Erstmals erscheint der dänische Comic-Strip der drei Gauner in deutscher Sprache. Herda nimmt das zum Anlaß, unbekannte dänische Interviews mit Machern und Darstellern der Serie und dem Zeichner des Comics zu veröffentlichen, die neue Details vermitteln. Egon, Benny und Kjeld sind in der Zeichenversion großartig getroffen, und wer sich wundert, warum sich Yvonne so wenig ähnlich sieht: Schauspielerin Kirsten Walther wollte unbedingt jünger gezeichnet werden.

Erik Balling & Henning Bahs sowie Otto Frello: Die Olsenbande und ihr großer Coup, dt. von Guido Herda, Holzhof- Verlag Dresden 2008, 30 Euro

bebe

 

Rechenschaft

»Heute ist Sonntag. Früh am Morgen habe ich mit dem Schreiben dieses Berichts begonnen. Rechenschaftsbericht, könnte darüber stehen. Einschätzung zur Person. Ich bin um Aufrichtigkeit bemüht. Kann ich mich von außen sehen? Und was sehe ich dann? Ich sehe einen Mann, der tötet. Und ich sehe einen Mann, der wartet. Er ist aber kein Mörder, und es ist kein sinnloses Leben, das der Mann führt.«
Lars Hagner, 42 Jahre alt, ist der Ich-Erzähler dieses erregenden Romans von Michael Sollorz. In »Die Eignung« zeigt sich der Autor, der bislang eher mit ironisch-feuilletonistischen Texten glänzte, als Meister der Novelle. Er liefert das bestechende Psychogramm eines Mannes, der darauf fixiert ist, einer »Sache« zu dienen. Der penibel auf Ordnung bedachte Lars Hagner arbeitet als Hausmeister in einer Berliner Plattenbausiedlung. Früher, als Soldat in der DDR, war unbedingte Pflichterfüllung sein Lebensinhalt. Er war auf seinen Zugführer Bossert eingeschworen, an dem er den asketischen Lebensstil bewunderte. Die Wende trennt die beiden Männer, Hagner gerät aus der Bahn, taucht in die Westberliner Subkultur ein, ohne Halt oder Befriedigung zu finden. Erst als Bossert sich wieder bei ihm meldet und ihn für ein streng geheimes Partisanennetz rekrutiert, findet Hagner wieder einen Sinn im Leben.
Sollorz liefert hier nicht nur die beklemmende Studie eines Einzelgängers, sondern legt dumpfe Verhaltensweisen, die mit dem Außenblick als typisch deutsch gelten könnten, bloß. Wie nebenher skizziert er in dem spannenden Text zwei deutsche Staaten vor und nach 1990 mit so treffenden Zügen, daß man atemlos weiterliest. Ein Mann gibt dem Leser Rechenschaft über sein Leben. Es macht betroffen.

Frank Burkhard

Michael Sollorz: Die Eignung, Männerschwarm Verlag Hamburg 2008, 160 Seiten, 16,80 Euro