Wähler und Hundekuchen
Wenn ein Ungelernter in einem Bäckerladen als Verkäufer von Kuchen beschäftigt wird, ist er noch lange kein Bäcker. Wird derselbe Ungelernte hingegen Abgeordneter in einem Parlament, ist er sofort Politiker. Auf die Vorbildung kommt es nicht an. Da nach Bismarck Politik die Kunst des Möglichen ist und Blödsinn immer möglich ist, hält so ein nichtqualifizierter Politiker alles Mögliche für Politik, und viele seiner Kollegen sehen das auch so. Von dieser Qualität ist die Forderung eines Bundestagsabgeordneten, eine Wahlpflicht einzuführen, um der »Wahlmüdigkeit« zu begegnen und »so viele Menschen wie möglich an die Urnen zu bekommen«. Denn »es ist wichtig, daß möglichst jeder Bürger aktiv an der Demokratie teilnimmt «. Um aber niemanden zu überfordern, schlägt der Mann vor, »Stimmenthaltungen auf Wahlzettel zu drucken«, denn, so sagt er, »wir müssen jedem die Möglichkeit geben, sich frei entscheiden zu können«. Er will also die Wahlmüden gar nicht munter machen, er will ihre Schlafstätte nur von der Wohnung ins Wahllokal verlegen. Die Gründe zu erkunden, aus denen die Leute keine Partei wählen wollen, und gegen sie anzugehen, kommt ihm nicht in den Sinn. Demnach hängt die Teilnahme an der Demokratie davon ab, an welchem Ort der Wahlverweigerer nicht wählt. Wie gesagt, Blödsinn ist immer möglich. Vergleichbares auf der Ebene des Backwarenverkäufers bestünde darin, daß der seinen Kunden Hundekuchen als Feingebäck zum Nachmittagskaffee anbietet. Was den von solchem Unfug abhält, ist erstens ein bißchen Wissen und zweitens die Gefahr, vom Chef an die Luft gesetzt zu werden. Und deshalb gehen die Leute lieber zum Bäcker als ins Wahllokal.
Günter Krone
Volksreligion
Was eine Volksreligion ist, habe ich ausgerechnet durch einen Muslim gelernt, einen Frauenarzt arabischer Herkunft, der mit einer Deutschen verheiratet ist und auf die Frage, was er denn davon halte, daß seine Tochter sich taufen und konfirmieren lassen wolle, folgende Antwort gab: »Wissen Sie, ich bin Arzt, also Naturwissenschaftler, also Atheist. -Wenn man in meinem Lande Atheist ist, hat man meine Religion. Wenn man in ihrem Lande Atheist ist, hat man Ihre Religion. Also kann das Kind ruhig Ihre Religion haben.«
Hermann-Peter Eberlein
Küssen erlaubt
Unter der Überschrift »Echt professionelle Arbeit« berichtet die Leipziger Volkszeitung: »Studenten entwerfen Werbeplakate für Universität«. Diese suchte nämlich »ein Plakat für die Imagekampagne zu ihrer 600-Jahr-Feier«. Das Plakat, das als bestes gekürt und in einer Auflage von 150 Stück gedruckt und ausgehängt wurde, zeigt in Übergröße und in roter Farbe einen durch Ober- und Unterlippe angedeuteten Mund, auf dem außer dem Universitätsnamen in deutsch und lateinisch die Jahreszahlen 1409 und 2009 stehen. Das Gestalterteam erklärt zu seinem Entwurf: »Wir haben die Jubiläumsmarke mit einem Kußmund kombiniert. Der soll darstellen, daß man sich in Leipzig wohlfiihlt«, und »daneben haben wir Namen von Persönlichkeiten gestellt, die den Grundstein ihres Erfolges durch ein Studium in Leipzig gelegt haben«. Diese Persönlichkeiten sind von oben nach unten aufgeführt: Johann Wolfgang von Goethe, Erich Kästner, Friedrich Nietzsche, Richard Wagner, Angela Merkel. Die Reihenfolge irritiert. Angelika Merkel als letzte und am weitesten entfernt vom Kußmund. Erstens ist es unhöflich, eine Frau an die letzte Stelle unter vier Männer zu plazieren. Und zweitens kann so der Eindruck entstehen, daß die Gestalter Angela Merkel für weniger bedeutend halten als Goethe oder Wagner oder Nietzsche oder Kästner. Überhaupt, die Männer sind alle tot und können sich zum Jubiläum und zur Reihenfolge nicht mehr äußern. Wäre es nicht besser gewesen, lebende Größen zu nehmen? Gut, Westerwelle, Struck oder Pofalla, die einem da auf Anhieb einfallen, haben nicht an der Leipziger Universität den Grundstein ihres Erfolges gelegt. Aber es hätte genügend andere gegeben. Denn wie sagt doch Erich Kästner: Bedenke in jedem Falle – auch wenn so vieles mißlingt – die Gescheiten werden nicht alle – so unwahrscheinlich das klingt (so ähnlich jedenfalls).
Günter Krone
Welcome to Your Brain
Das menschliche Gehirn ist ein extrem kostspieliges Organ. Der Denkapparat eines Erwachsenen frißt allein fast ein Fünftel, der eines Säuglings sogar drei Viertel der gesamten Stoffwechselenergie. Das bedeutet allerdings nicht, daß man desto besser denkt, je mehr Nährstoffe man zu sich nimmt. Von der Energie, die das Gehirn benötigt, dient nämlich der Löwenanteil der ständigen Aufrechterhaltung seiner Betriebsbereitschaft. Im übrigen arbeitet es im Gegensatz zu allen herkömmlichen Maschinen derart effizient, daß es täglich gerade einmal zwölf Watt verbraucht. Kindern, die unter Amblyopie leiden, fällt es äußerst schwer, die Bewegungen eines Auges zu steuern. Lange schien die beste Therapie darin zu bestehen, das gute Auge ständig abzudecken, um das träge zu trainieren. Doch mittlerweile hat man erkannt, daß die Rechnung nicht aufgeht, weil man das Gehirn vergessen hat. Es besteht nämlich die Gefahr, daß es versäumt zu lernen, die von beiden Augen gelieferten optischen Informationen miteinander in Einklang zu bringen. Dieses Buch – eine Gemeinschaftsproduktion von Sandra Aamodt, der Chefredakteurin der Zeitschrift »Nature Neuroscience«, und des Neurowissenschaftlers Samuel Wang, der an der Universität Princeton lehrt -kann nicht nur mit einer Zusammenfassung des neusten Standes der Hirnforschung aufwarten. Es wird auch erörtert, was im menschlichen Gehirn vor sich geht, wenn es sich mit typischen Alltagssituationen auseinanderzusetzen hat. Dabei wird die Rolle der Emotionen, des Bewußtseins und der Rationalität ebenso behandelt wie der Jetlag, die Willensfreiheit, kognitive Unterschiede zwischen Männern und Frauen oder die Frage, ob alles, was das Gehirn jemals aufgezeichnet hat, für immer im Gedächtnis deponiert bleibt. Ganz nebenbei nehmen Sandra Aamodt und Samuel Wang eine Reihe von Mythen über das Gehirn und seine Funktionsstörungen auseinander. Nicht wenige dieser Mythen sind deswegen derart zählebig, weil sie durch unzählige Hollywood-Filme popularisiert worden sind. Aamodt und Wang brauchen keinen Fachjargon und nur wenige Worte, um grundlegende Erkenntnisse der Hirnforschung zu vermitteln. Ein hochinformatives Buch, das man wie ein Lexikon benutzen kann.
Frank Ufen
Sandra Aamodt, Samuel Wang: Welcome to Your Brain. C. H. Beck, München 2008, 297 Seiten, 19,90 Euro
Autschn
Ich hatte es satt, in meinem renovierungsbedürftigen Kämmerchen zu sitzen, und sann über mögliche Veränderungen nach. Sicher konnte man sich, sobald man des Sitzens im renovierungsbedürftigen Kämmerchen überdrüssig war, einfach hinlegen oder – stellen; aber eine echte Lösung war – das wohl nicht. In einem so bedeutungsschweren Jahr wie 2009 sollte man ruhig mal Grenzen durchbrechen und aus sich und seinem renovierungsbedürftigen Kämmerchen herausgehen. Herausbrechen wäre kein so guter Ausdruck. Also tat ich das Naheliegende, ich fuhr nach Berlin. Bar jeder Vernunft. Das ist keine Charakterisierung meines Unterfangens, sondern so hieß mein Ziel. Ich wollte endlich dem berühmten grenzdebilen, halbblinden und sprachgestörten Maulwurf, der sich mit einem Geräusch wie Adolf Henneckes Hammer bei der berühmten Sonderschicht durchbuddelt, der, wenn er den Kopf hochklappt, nein eben nicht hebt, sondern hochklappt, ein Geräusch macht, welches an das Entkorken einer Flasche erinnert, dem Maulwurf also, den ich von You Tube kannte, Aug in Auge gegenüberstehen, wobei mir klar ist, daß das kein besonders treffender Ausdruck für eine solche Begegnung ist. Mit fallt aber kein anderer, einigermaßen großartiger dafür ein. Dann saß ich eng gedrängt im schönen Spiegelzelt der Bar jeder Vernunft in der Schaperstraße und genoß eine gutsituierte Apfelschorle. Man erkennt sie daran, daß sie je halbem Liter 5 Euro verdient. Es erwartete mich Klamauk. Reiner Klamauk. Nein, das ist nicht der Name des Akteurs, der heißt Rene Marik und veranstaltete »Autschn«, diesen sogenannten Abend über die Liebe. Erst merkt man es gar nicht, weil der Schauspieler Herr Falkenhorst, ein Frosch übrigens, einen ganz unverdächtigen Eindruck macht und auch der Maulwurf zunächst wie eine Märchenfigur erscheint. Aber wenn dann der Untergang der Titanic, der mir hier als Gleichnis für die Finanzkrise erschien, aus Sicht des Schiffs und aus der des Herrn Eisbären Kallikowski auf dem Eisberg präsentiert wird, in einer Kürze und Lapidarität, die ihresgleichen sucht, das Liebesleben der Lappen gezeigt wird und so Sexualstörungen als Zeichen der Zeit entblößt erscheinen, die Sachbearbeiterin auf der Arge, Schibulski, einen Reißverschluß hat, bei dessen Öffnung erstaunliche Dinge sichtbar werden, ahnt man etwas. Als dann als Gast der deutsche Meister im Luftgitarrenspiel, Hart Backbord, auftritt und davon berichtet, daß er schon mit vier seine erste Luftgitarre bekam, wird einem klar, hier geht es um Politik. Denn eine Luftgitarre kann damals nur aus dem Westen gekommen sein, im Osten gab es sie natürlich nicht, also muß er selber entweder Westler sein, oder aber das Instrument war eines jener ungezählten, die über die Grenze geschmuggelt wurden und auf denen man dann schließlich das Lied der Freiheit spielte. Und nun ist klar: Der Maulwurf, das sind wir. Wie er den Turm des Rapunzel erst bemerkt, als er mit der Nase draufstößt, was ihm nicht mehr entlockt als ein »Autschn«, wie ihm die Erweckung des Schneewittchens völlig mißrät, wie er nichts und niemanden beim richtigen Namen nennen kann, nicht einmal sich selbst, und schließlich auf einer Autobahn stirbt – das läßt uns in ihm erkennen. Niemand versteht ihn so recht, er versteht die Welt nicht, was nicht an der Welt liegt, die ist an und für sich verständlich. Große Politik, die als Klamauk daherkommt, das gibt es nur im Theater. In der Realität ist es meist andersherum.
Ove Lieh
Der Tod auf Raten
Menschen sterben, Menschen leben vor dem Sterben, sterben auf Raten, bis alles abgezahlt ist und sie gehen dürfen – ins Nichts, also für nichts bezahlt, für nichts gequält, für nichts gestorben – im Bett, in einem fremden, einem Bett, in dem schon andere starben, in einem Haus, das nicht ihres war, in einem fremden Haus, einem Haus fürs Sterben: euphemistisch Krankenhaus genannt oder Seniorenheim – oder doch im Eigenheim, aber dann meistens in einem Bett, das zum Sterben herangekarrt wurde – das Fremde am Tod bleibt. Keiner hat ihn je erlebt, ohne berichten zu können, wie er war, also eine Erfahrung, die jeder macht, machen muß, ohne sie zu kennen, ihn wirklich zu kennen, außer von Schauspielern, die dann wieder aufrechtstehen, um einen Preis für ihren Tod anzunehmen. Die Angst bleibt. Der Tod bleibt unbekannt. Aus der Ferne, also aus nächster Nähe bleibt er manchen nicht erspart, der fremde Tod eines dennoch uns nahestehenden Menschen, wir am Bett sitzend, einen sabbernden Menschen betrachtend, ihm helfen wollen, dem, der uns noch viel Glück wünschte und dann die nächste Rate zahlte, um zu gehen, gehen zu dürfen, unter die Erde gebracht zu werden – oder ganz kitschig – verstreut über dem Meer sich ausbreitend, fort, für immer weg, außer auf Bildern, doch bald verblassend, als Grabstein mit tiefsinnig verlogenen Sprüchen verziert. Ein Tod ist das Leben ohne Wiederkehr, alles – so will es das Klischee – zieht an einem vorbei; vorbei das Leiden mit dem Toten, des Toten, das Leiden um den Toten beginnt dann, wieder wird ein Leben rekapituliert, alles halb so schlimm – das Leben, diesen Tod hat er, hat keiner verdient, und dennoch zahlen so viele, von Nah, von Fern – den Tod auf Raten.
Paul
Der Wolf und der Schäfer
Ein Schäfer hatte durch eine grausame Seuche seine ganze Herde verloren. Das erfuhr der Wolf und kam, seine Kondolenz abzustatten. »Schäfer«, sprach er, »ist es wahr, daß dich ein so grausames Unglück betroffen? Du bist um deine ganze Herde gekommen? Die liebe, fromme, fette Herde! Du dauerst mich, und ich möchte blutige Tränen weinen.« »Habe Dank, Meister Isegrim«, ‚ versetzte der Schäfer. »Ich sehe, du hast ein sehr mitleidiges Herz.« »Das hat er auch wirklich«, fügte des Schäfers Hylax hinzu, »sooft er unter dem Unglücke seines Nächsten selbst leidet.«
G. E. Lessing
Der Mensch
Empfangen und genähret Vom Weibe wunderbar, Kömmt er und sieht und höret Und nimmt des Trugs nicht wahr, Gelüstet und begehret Und bringt sein Tränlein dar; Verachtet und verehret; Hat Freude und Gefahr, Glaubt, zweifelt, wähnet und lehret, Hält nichts und alles wahr, Erbauet und zerstöret Und quält sich immerdar; Schläft, wachet, wächst und zehret; Trägt braun und graues Haar. Und alles dieses währet Wenns hoch kommt, achtzig Jahr. Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder, Und er kömmt nimmer wieder.
Matthias Claudius (1740-1815)
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