von Klaus Hansen
Guten Tag sagen, ohne daß man miteinander bekannt ist. Die Tür aufhalten, ohne zu wissen, wer hinter einem kommt. Dem Älteren den eigenen Platz anbieten. Aus der gemeinsamen Thermoskanne zuerst dem Kollegen einschenken, dann erst sich selbst. Sind das individuelle Gefälligkeiten gegenüber dem anonymen oder kollegialen anderen oder erweist man damit der Gesellschaft als ganzer einen Dienst?
In dem Buch »Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft« von Claude Lévi-Strauss, erschienen in der Mitte des letzten Jahrhunderts, findet sich folgendes Beispiel aus einer französischen Autobahngaststätte. Der Autor schildert, wie Fernfahrer in einer Raststätte sich zum Mittagessen an langen Tischen einfinden. Offener Wein in Krügen wird serviert.
Die Fahrer kennen sich in der Regel nicht persönlich. Es hat sich über die Jahre eine Gewohnheit herausgebildet, wonach der eine Fahrer damit beginnt, seinem Tischnachbarn etwas von seinem Wein einzuschenken. Der Nachbar erwidert natürlich sofort die freundliche Geste. Keiner, der es nicht tut. Hier wird etwas ausgetauscht, bemerkt Levi-Strauss, was keiner von beiden benötigt, da jeder seinen eigenen Krug Wein besitzt. Dennoch erfüllt der Austausch eine soziale Funktion: sich gegenseitig kennenzulernen, Lévi-Strauss sagt: »sich zu binden«.
Heute nennt man in moderner sozialwissenschaftlicher Diktion all das, was einst schlicht »Höflichkeit« genannt wurde, eine »Investition ins Sozialkapital«. Damit erhalten individuelle Gesten der Freundlichkeit, Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft eine enorme gesellschaftliche Aufwertung, denn nun werden sie als Beiträge zur kollektiven Wohlfahrt anerkannt.
Der Begriff des Sozialkapitals ist zwar schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts aufgetaucht, ohne jedoch weiter beachtet zu werden. Erst in den achtziger und neunziger Jahren begann seine Karriere als gesellschaftsanalytischer Terminus. Autoren wie Pierre Bourdieu, Robert D. Putnam und James S. Coleman haben ihn bekannt gemacht. Der Zeitpunkt ist nicht verwunderlich. Denn genau in jenen Jahren stiegen Begriffe wie »Individualisierung«, »Flexibilisierung « und »Mobilität« zu charakteristischen Merkmalen für die Gesellschaften des sich globalisierenden Kapitalismus auf. Die Begriffe standen und stehen – neben allen Hoffnungen, die Neoliberale unverdrossen damit verbinden – für eine Schwächung des innergesellschaftlichen Bindegewebes: Strukturen, Verpflichtungen und Werte, die vor allem durch Klassenherkunft, Religions- Zugehörigkeit und Familientradition von Generation zu Generation sozial vererbt wurden, verlieren nun zunehmend ihre Verbindlichkeit, ohne adäquat ersetzt zu werden. Ein neuer Sozialcharakter taucht in ersten Umrissen auf: der von seiner Herkunft unbeeindruckte, geographisch mobile und psychisch flexible Hohlkörper, der gewillt ist, sich im Konkurrenzkampf aller gegen alle zu behaupten.
Was ist Sozialkapital? Alle Ressourcen, die aus einem Netz dauerhafter Beziehungen des gegenseitigen Kennens und Anerkennens resultieren. Durch Sozialkapital entsteht in einer Gesellschaft das Klima des sozialen Vertrauens. Wie man ökonomisches und kulturelles Kapital als individuelles Gut erwerben kann, ist bekannt: durch gute Geschäfte und hohe Bildungsabschlüsse. Soziales Kapital aber »hat« man nicht im gleichen Sinne, wie man Geld oder Wissen »hat«. Man erwirbt es auch nicht, indem man es privatisiert und hortet, im Gegenteil: Soziales Kapital »erwirbt« man, indem man es »ausgibt«, und zwar für die »unaufhörliche Beziehungsarbeit«, wie Bourdieu sagt. Oder sagen wir es lyrisch mit Erich Kästner: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es«, und zwar in Permanenz: individuelle Rücksichtnahme; aktive Nachbarschaft; Hinschauen statt Wegsehen; engagierte Staatsbürgerschaft; im Fremden eine Bereicherung erkennen, statt eine Gefahr wittern; Zivilcourage – die Reihe der »zivilgesellschaftlichen Tugenden«, wie sie heute genannt werden, ließe sich fortsetzen. Hier möchten wir den Begriff des Altruismus ins Spiel bringen, allerdings in einer Bedeutung, wie sie heute unüblich ist und kaum diskutiert wird.
Das Wort Altruismus stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und ist von Auguste Comte geprägt worden. Wir verstehen es heute als Ausdruck der Selbstlosigkeit und Gegensatz von Egoismus. Das Wort geht auf das Lateinische »alter« und das Französische »autroi« zurück: »der andere«. Man kann Altruismus auch als die »Lehre vom anderen« auffassen. Die »Einbeziehung des anderen in mein Denken, Fühlen und Handeln« wäre dann das Programm dieses wortursprünglich verstandenen Altruismus. Der andere geht mir voraus; ich bin das Produkt von anderen; andere bringen mich durch die ersten Lebensjahre; erst im Spiegel der anderen bildet sich mein personales Selbst. Als soziales Wesen bin ich lebenslang auf das Zusammenleben mit anderen angewiesen. Selbst als Einzelgänger und Eremit brauche ich die Duldung anderer. Darum ist Arthur Rimbauds scheinbar paradoxe Selbstbezichtigung: »Je, c‘est un autre« (»Ich, das ist ein anderer«) eine durchaus plausible Identitätsbestimmung. Alles, was der Mensch ist, ist er auf dem Umweg über andere.
Vielleicht sollte man das Programm des wortursprünglich verstandenen Altruismus durch ein inhaltliches Adjektiv genauer qualifizieren: Es geht nicht allein um die unvoreingenommene Begegnung mit dem anderen, sondern um seine wohlwollende Einbeziehung in mein Denken, Fühlen und Handeln, womit ein hoher Vertrauensvorschuß für den anderen verbunden ist. Das kreditierte Wohlwollen ist notwendig, um den Pygmalion-Effekt zu bewirken (das ist der griechische Vorläufer der »self fullfilling prophecy«), so daß im anderen der Ehrgeiz entsteht, meine Erwartungen zu erfüllen und mich nicht zu enttäuschen.
Oder in den Worten Goethes, der 1796 in »Wilhelm Meisters Lehrjahre« schrieb: »Wenn wir die Menschen nur so nehmen, wie sie sind, so machen wir sie schlechter, wenn wir sie so behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.« Auf eine Formel gebracht: Man wird, wie man beurteilt wird.
Die vielfach als »Gutmenschen«-Spruch diskriminierte Maxime »Fremde sind Freunde, die man noch nicht kennengelernt hat«, könnte unter den Bedingungen des Wohlwollens zum ernsthaften moralischen Leitspruch werden. Altruismus ist ein Weg, die Fremden kennenzulernen und zu Freunden zu machen. Altruismus, so verstanden, wäre dann die Währung des Sozialkapitals. Ein »Kapitalismus mit menschlichem Antlitz« – für manche allerdings eine Contradictio in adjecto – kann darauf nicht verzichten.
Schlagwörter: Altruismus, Klaus Hansen, Sozialkapital