von Günter Wirth
Es war 1905, als ein einunddreißigjähriger Pfarrer nach Rüsselsheim kam und die dortige evangelische Gemeinde übernahm. Alsbald sollte sich herausstellen, daß es sich um einen Geistlichen handelte, der anderen Verpflichtungen folgte als die meisten seiner Vorgänger.
Um 1905 war nicht mehr zu übersehen, daß das, was in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts im Schuppen eines Rüsselsheimer Schlossermeisters begonnen hatte, nämlich erst Nähmaschinen herzustellen, denen in der Phase der industriellen Entwicklung vor 1900 Fahrräder gefolgt waren, nun 1905 in ein neues Stadium eingetreten war: »Opel war eine der größten Nähmaschinenfabriken Deutschlands, führend für Fahrräder, ringend um Bedeutung in der Autoproduktion. Es war eine Fabrik von 1500 bis 2000 Arbeitern …«
Der junge Pfarrer ist kein anderer als Emil Fuchs, der in jenen Jahren (bis 1914 war er in Rüsselsheim) ein neues Verhältnis zur Arbeiterschaft fand und damit auch nach und nach zur Arbeiterbewegung. Und so war es nur folgerichtig, daß er später einer der Führer der religiösen Sozialisten in Deutschland wurde und sich der Sozialdemokratie näherte. In seinen in den dreißiger Jahren unter schwierigen Umständen verfaßten Lebenserinnerungen (Mein Leben, Band 1, Leipzig 1957) hat er die Rüsselsheimer Zeit anschaulich beschrieben.
Für diese Lebenserinnerungen ist methodisch auffällig, daß ihr Verfasser jede Gemeinde, in der er amtierte, gewissermaßen soziologisch analysierte, und für Rüsselsheim stellte er von Anfang an fest, daß Bauern wie Handwerker, kleine Betriebe wie Geschäfte auf Opel fixiert, letztlich von Opel abhängig waren, dies in dem Maßstab, der damals galt, also dem mehr oder weniger lokalen. Heute gilt ein Maßstab mit anderen Dimensionen – man kann es täglich in den Zeitungen lesen.
Es war »Madame Opel«, die Frau des Seniorchefs, die Emil Fuchs auf eigene Weise zugleich beeindruckte und sie als rücksichtslos charakterisieren ließ. Analoges galt für den jungen Pfarrer für die Opelwerke und deren Leitung überhaupt. »Bewundern mußte man die Leitung. Es war ein gewaltiger Aufstieg der Firma in den Jahren 1905 bis 1914, den ich miterlebte. Fast verdreifacht hat sich ihre Arbeiterzahl in dieser Zeit, und Rüsselsheim selbst stieg von viertausend auf achttausend Einwohner. Das ist nur dem Wachstum der Firma Opel zuzuschreiben.«
Andererseits war Fuchs enttäuscht, wie wenig die Elite des Werks Anteil an seiner Gemeindearbeit nahm. »Erst langsam im Laufe meines Lebens lernte ich erkennen, daß sie … Opfer der allgemeinen geistigen Verständnislosigkeit im deutschen wirtschaftlichen Leben und seiner Führer waren …«
Für Emil Fuchs und seine Stellung in Rüsselsheim und in seiner Gemeinde ist ein Vorgang charakteristisch, den er eindrücklich schildert. Nach seiner Hochzeit hatte Madame Opel seine Frau zum Abendessen eingeladen. »Wir besprachen es miteinander, und dann machte sich meine Frau auf den Weg, der alten Dame auseinanderzusetzen, warum sie als Pfarrfrau von Rüsselsheim eine solche Einladung nicht annehmen könne … ‚Eine Arbeiterfrau kann mich nicht zum Abendessen einladen. Wenn ich also eine Einladung bei Ihnen annehme, so muß ich in die Lage kommen, daß ich als Ihnen näherstehend empfunden werde und der Arbeiterfrau ferner. Das kann und darf ich nicht veranlassen.’« Es sei für Madame unmöglich gewesen, das zu verstehen. »So entstand durch diese Absage eine Spannung zur Familie Opel, die nie mehr aufhörte.«
Für den Gemeindepfarrer Emil Fuchs hatten dieser Vorgang und ähnliche die Konsequenz, daß sich die konservative Kerngemeinde von ihm als dem »Linken« zurückzog, und die, für die er öffentlich eintrat, hielten sich dennoch von seiner Gemeinde fern. Erst nach und nach gelang Emil Fuchs in seiner Rüsselsheimer Zeit ein gewisser Ausgleich, vor allem durch eine Art Volkshochschule, die er entwickelte.
Vor diesem Hintergrund sind wiederum einige soziologische Beobachtungen sehr aufschlußreich (tatsächlich sollte Emil Fuchs als Leipziger Theologieprofessor ab 1949 religionssoziologische Vorlesungen halten). Da nach Ausweitung der Opelwerke und der Erhöhung der Zahl der Arbeitskräfte diese nicht mehr aus den lokalen »Ressourcen« gewonnen werden konnten, mußten sie in den großen Städten der Umgebung angeworben werden. Diese waren es dann, die sich alsbald gewerkschaftlich und politisch organisierten und Rüsselsheim zu einer »Hochburg der Sozialdemokratie« machten, während die einheimischen Arbeiter ihrer kleinen Häuser und Gärten hatten und noch länger eine »patriarchalisch-traditionelle Haltung« einnahmen. Allmählich seien freilich auch sie in den gewerkschaftlichen Kampf hineingezogen worden, »je mehr sie mit dem Leben der Stadt in Berührung kamen«.
Übrigens veränderte sich durch die Zuzüge auch das einstige homogene konfessionelle Bild Rüsselsheims durch katholische Arbeiter, die ebenfalls gewerkschaftliche Erfahrungen hatten, und durch Freikirchler.
Emil Fuchs faßte seine Rüsselsheimer Erfahrungen so zusammen, daß er festhielt, er habe als junger Pfarrer das Volk wirklich kennenlernen wollen, »nicht aus Büchern und Idealen, sondern im realen Leben«. Rüsselsheim sei hierfür ein »gutes Objekt“ gewesen. »Auf engstem Raum zusammengedrängt fast alles, was in diesem Volk an Ständen und Schichtungen und Nöten vorhanden war.«
Wenn Emil Fuchs später über seine frühen Kämpfe berichtete, spielten die Rüsselsheimer »Lehrjahre« eine herausragende Rolle. Doch freilich: Was für ihn in den hessischen familiären Maßstäben so dramatisch war, das erscheint heute in den globalen anonymen Ausmaßen der Situation von Opel als geradezu idyllisch.
Schlagwörter: Emil Fuchs, Günter Wirth, Opel