von Gerd Kurze
Neunzig Prozent der Arbeit beim Regieführen sei das Casting, so der berühmte amerikanische Filmregisseur John Huston. Es käme vor allem darauf an, den richtigen Darstellerinnen und Darstellern die richtigen Rollen zu geben – nicht nur für die Filmleinwand, sondern natürlich auch für die Theaterbühne. Gutes Drehbuch/Theaterstück vorausgesetzt, sollte dann nicht mehr viel schiefgehen – tut es trotzdem manchmal.
Aber es ist eben gelungen, wenn man nach mehr oder weniger zwei Stunden angespannten, beinahe atemlos gebannten Dabeiseins im Kino oder Theater sagt: Das war wirklich einmal toll! Und dann gehen einem die Szenen nach, hört und sieht man die Personen wieder, die da agierten, fragt sich, was sie sich – alles erfunden von einem Autor, inspiriert und arrangiert von einem Regisseur (und seinem Team), vorgeführt von Schauspielerinnen und Schauspielern, bewirkt durch ihre Darstellung auf Leinwand oder Bühne. Par excellence ging das mir so mit der ersten Theaterinszenierung des bisher durch seine Spielfilme bekannten Regisseurs Christian Petzold: »Der einsame Weg« von Arthur Schnitzler am Deutschen Theater Berlin, Premiere am 14. März.
Schnitzler hatte lange um dieses Werk gerungen, bevor es im Januar 1904 am selben Ort uraufgeführt wurde. Die Personage spiegelt seine ganze Welt wider:
Großbürgertum im Fin de Siècle, in der Schlußphase seines »Imperialen Zeitalters« (Eric Hobsbawm). Die Männer, mit einer Ausnahme, haben den Aufstieg und die ersten großen Krisen des Kapitalismus nicht mehr bewirkt oder durchgestanden,. sondern als Söhne die »Gründerzeit« nur miterlebt. Und die Frauen, mit einer Ausnahme, mußten ihre Rollen an deren Seiten spielen.
Die Ausnahmen, Tochter Johanna (Nina Hoss) und Sohn Felix (Alexander Khuon) der Familie Wegrat aber sind wiederum nur die Kinder der Kinder des Aufstiegs und der Krisen. Sie fragen sich schon in ihren jungen Erwachsenenjahren dasselbe, was ihre Eltern und deren Freunde bei deren Begegnungen im Hause Wegrat umtreibt: War das alles? Ist das das Leben?
Professor Wegrat (Jörg Gudzuhn) als Kunstakademiedirektor arrivierter einstiger Studienkollege und Künstlerfreund des dann kurzzeitig berühmten Malers Julian Fichtner (Ernst Stötzner). Dazu ihr Freund, der Privatier Stephan von Sala (Ulrich Matthes), deaktivierter Offizier, der sich der Dicht- und Theaterkunst verschrieb. Dabei der Hausarzt Doktor Franz Reumann (Frank Seppeler), er betreut des Professors Gattin Gabriele (Barbara Schnitzler) in ihrem Siechtum, diagnostiziert von Salas zum baldigen Tode führende Erkrankung und spricht über dem Leichnam der in den Freitod gegangenen Tochter einige unschön-schöne Worte (aus Schnitzlers Traumnovelle entlehnt; andererseits sind manche Verbalarabesken des Stückes gestrichen worden). Dabei ist auch die Schauspielerin Irene Herms (Almut Zilcher), einst Modell des zeitweilig als begnadet geltenden Malers, ehemals auch seine Geliebte, beinahe die Mutter eines seiner Kinder. Am Ende begibt sie sich wahnhaft in eine Illusion und wird gemeinsam mit dem Sohn, der nun weiß, wer ihn einst zeugte, aber mit neuen Illusionen nicht leben will, abgehen. Ein Schluß, vage ins Künftige deutend, den das Original nicht fand.
In der Gegenwart spielt das Stück bei Schnitzler – ebenso bei Petzold. Für vergangenen Aufstieg, krisenhafte Entwicklung und katastrophalen Fall gibt es immer Zeitgenossen. Nur wissen wir noch nicht so genau, in welcher Phase der historischen Parabel wir gerade stecken. Petzold jedenfalls hat mit seinen Filmen, zuletzt »Yella« und »Jerichow«, eindrucksvoll davon gezeugt. Bei Schnitzler habe er zu seiner Überraschung sein Thema wiedergefunden.
»Schnitzler, das ist grausames Wissen um unsere Nichtigkeit zwischen den Abgründen und Schwermut über so vieles, das wir wohl vermocht hätten, aber versäumt haben.« So Heinrich Mann, 1922. Auf der Bühne des Deutschen Theaters wird das nun mit exzellenter Präzision gezeigt von einem exquisiten Ensemble, das Regisseur Christian Petzold zusammenführte bei seinem, wie er sagte, »einmaligen Ausflug« hierher.
Nächste Aufführungen: 5., 11., 12. April
Schlagwörter: Arthur Schnitzler, Christian Petzold, Gerd Kurze