von Jochen Mattern
Barack Hussein Obama leistete seinen Amtseid auf die Bibel, auf die auch Abraham Lincoln schon geschworen hatte. Zuvor schon reiste er, wie Lincoln, mit dem Zug von Springfield (Illinois) zur Amtseinführung nach Washington. Die Bezugnahme auf einen Amtsvorgänger mit weißer Hautfarbe erklärt sich wohl hauptsächlich aus der Abschaffung der Sklaverei, die Lincoln während seiner Präsidentschaft in den Jahren 1861 bis 1865 durchgesetzt hatte. Den Bürgerkrieg, den die Südstaaten zum Erhalt der Sklaverei gegen den industrialisierten Norden anzetteln, führten beide Seiten mit äußerster Härte und
den modernsten Waffen. 620 000 Menschen kostet er das Leben und gefährdete zeitweilig den Fortbestand des Bundesstaates. Trotzdem forderte Lincoln nach dem Sieg der Nordstaaten über die Sezessionisten nicht deren Bestrafung, sondern rief zur Versöhnung und zu nationaler Eintracht auf. Ein Anliegen, das auch Obama inmitten von Krieg und Wirtschaftskrise verfolgt. Seine um nationalen Ausgleich bemühte Politik bewahrte Lincoln dennoch nicht vor dem gewaltsamen Tod. Kurz nach dem Antritt seiner zweiten Amtsperiode fällt er dem Attentat eines Südstaatlers zum Opfer.
Zu denen, die offiziell ihre Trauer über die Ermordung des US—Präsidenten bekundeten, gehörte auch Karl Marx, zu der Zeit unbestritten ein theoretischer und politischer Kopf der Arbeiterbewegung in Europa. Er entsprach damit einem Auftrag der Internationalen Arbeiterassoziation. Marx rühmte Lincoln als einen »der seltenen Männer, denen es gelingt, groß zu werden, ohne daß sie aufhören, gut zu sein«. »Sein titanisches Werk« habe er »ebenso einfach und bescheiden verrichtet, wie Herrscher von Gottes Gnaden kleine Dinge mit prahlerischem Glanz und Aufwand zu tun pflegen«. In einem Porträt, das Marx zwei Jahre zuvor verfaßte, würdigte er Lincoln als »einen Plebejer, der sich vom Steinklopfer bis zum Senator in Illinois hinaufgearbeitet« habe, »eine Durchschnittsnatur von gutem Willen«, »ohne ausnahmsweise Bedeutung«, der »das Bedeutendste immer in der möglichst unbedeutendsten Form« verrichte. Marx betonte, daß dieser Mann nicht die »Ausgeburt einer Volksrevolution«, sondern durch »das gewöhnliche Spiel des allgemeinen Stimmrechts« in das politische Spitzenamt der USA gelangt sei. »Niemals«, hielt Marx resümierend fest, »hat die neue Welt einen größeren Sieg errungen als in dem Beweis, daß mit ihrer politischen und sozialen Organisation Durchschnittsnaturen von gutem Willen hinreichen, um das zu tun, wozu es in der alten Welt der Heroen bedürfen würde!«
Marx‘ Lob des Parlamentarismus, in dem durchschnittliche Begabungen ausreichen, um politisch Bedeutsames vollbringen zu können, erstaunt heute ein wenig angesichts der revolutionären Traditionen in der Arbeiterbewegung Europas. Die neue Welt brachte jedenfalls einen anderen, neuen Typus des Revolutionärs hervor, der, durch und durch zivil, »das Bedeutendste im Alltagsrock« verrichtet.
Dieser Vorzug der neuen Welt vor Europa scheint sich heute eher als ein Nachteil zu erweisen. Denn zur Bewältigung der gigantischen Aufgaben, vor denen der US-Präsident steht, rechnet der Durchschnittsamerikaner ebenso wie der durchschnittliche Europäer mit einem Politiker, der alles andere ist als eine »Durchschnittsnatur von gutem Willen«. Von Barack Obama wird Außergewöhnliches erwartet. Die Sehnsucht nach dem Außeralltäglichen, nach dem großen Mann, der den Lauf der Welt korrigieren soll, wirkt beängstigend. Vergessen scheint Marxens Lob der Einfachheit des bedeutenden Mannes.
PS. : Inzwischen scheint Obama vom Alltag eingeholt worden zu sein: Am 18. März meldete ein ARD-Korrespondent aus Washington, »Obamas Umfragewerte« befänden sich bereits »im freien Fall«.
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