Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 30. März 2009, Heft 7

Bemerkungen

Zumwinkelzüge

Die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise – sie offenbart eigentlich ja nur deutlicher als sonst die Webfehler des Kapitalismus – schafft es, daß Faktenlage und deren Kommentierungskraft immer mehr auseinanderdriften. Während sich die Unglaublichkeiten bei den Hochmögenden immer weiter zu steigern wissen, ist die Sprache bereits am Ende der Fahnenstange ihrer Bezeichnungskunst angekommen. Was anderes bleibt also, als einfach nur zur Kenntnis zu nehmen: Einem Herrn Zumwinkel, wegen Steuerhinterziehung rechtskräftig zur Zahlung einer Million Euro verurteilt, sind jetzt die Pensionsansprüche von 20 Millionen Euro ausgezahlt worden; rechtsstaatlich korrekt, versteht sich. Zumwinkel erhielt außerdem laut Geschäftsbericht für die zwei Monate
seiner Tätigkeit im Jahr 2008 Bezüge von insgesamt 714 045 Euro. Darunter war eine Bonuszahlung von 480 184 Euro. Außerdem Aktienoptionen mit einem sogenannten Zeitwert von mehr als einer Million Euro.
No comment!
Außer vielleicht, daß ich mich an die aufgebrachten Debatten erinnert fühle, bei denen der unfaßliche Luxus und Reichtum der DDR-Oberen in breiter öffentlicher Empörung verurteilt wurde. Das Privatkonto eines Hermann Axen zum Beispiel, immerhin fast vierzig Jahre eine leitende Figur der SED, soll damals – sage und schreibe! – 200 000 DDR-Mark ausgewiesen haben …
Damit endet die Erinnerung an damals allerdings auch schon. Denn außer unverbindlichen Empörungsritualen mit Bild an der Spitze bewegt das Volk, das gewesen zu sein zumindest die Ostelbier ja mal so stolz waren, die heutigen Unglaublichkeiten einfach zur (wenn auch murrenden) Kenntnis.
Jene zum Teufel zu jagen, die ihnen die ganze Malaise eingebrockt haben, fällt – außer Revoluzzern, vor denen uns wiederum der Herrgott bewahren möge – niemandem ein.

Helge Jürgs

Weißes Blatt

Ein Grafikdesigner, gerade aus seinem Praktikum entlassen, ist auf der Suche nach einem Café mit drahtlosem Internet für seinen Laptop, den er unter seinem Arm trägt. Die Röte des Morgens steigt gerade auf; kein Café mit entsprechenden Öffnungszeiten in Sicht, da tut sich vor dem jungen Mann ein ganz eigener Laden auf. Verschiedene nutzlose Dinge hängen im Schaufenster, drinnen sind weitere aufgehäuft, alle ohne Preisschilder.
Der Grafikdesigner betritt das Geschäft, sieht sich um und wird sofort von einem Mann hinter der Theke angesprochen: »Was suchen Sie?« Der Grafikdesigner ist etwas verlegen, weiß es selbst nicht und gibt zur Antwort: »Die Wahrheit.« »Ach so, die Wahrheit.« Der Grafikdesigner denkt an generationsübergreifenden Sadismus, als er hört: »Ja, die habe ich, hier irgendwo, aber junger Mann, das kostet Ihre Seele«, sagt der Mann beiläufig. »Das ist kein Problem, meine momentane habe ich sehr günstig erworben; ich habe sie satt, ich wollte schon lange eine neue, ich weiß bloß noch nicht, was draufstehen soll.«
»Aha, also wollen Sie die Wahrheit?« »Ja«, antwortet der Grafikdesigner und erwartet Schlimmes.
Der Mann schaut unter die Theke, bückt sich, zieht an etwas und richtet sich mit einem weißen Blatt Papier auf, legt es auf den Tisch und nimmt aus einem Zahnputzbecher neben ihm einen Bleistift, den er auf das Blatt legt: »Finde sie«, sagt er.
Der Grafikdesigner nimmt beides, sieht das Blau an, als würde er hindurch sehen, hebt es hoch, wobei sein Laptop, das Ding mit den verdrahteten Schaltkreisen, aus seiner Achselhöhle rutscht und auf dem Boden zerschellt. Darauf nicht achtend geht er vor die Tür, das Papier weiter in die Höhe haltend, er hält es gegen die Sonne, ein Lichtschein fällt durch das tote Holz, er sieht nur: weiß.
Im Laden hinter ihm gehen die Rolläden nieder.

Paul

Papierkörbe

Hildigund Neubert, Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Thüringen, sagte vor genau einem Jahr, gerichtet an die ewigen DDR-Nostalgiker, man solle die vielen Alten nicht vergessen, die in sozialistischen Zeiten auf den Straßen umhergelaufen seien und in den Papierkörben nach etwas Eßbarem gewühlt hätten. In meinem Dorf gab es gar keine Papierkörbe. Die Alten haben aber trotzdem überlebt, und mir ist auch aus den Nachbargemeinden, denen Papierkörbe ebenfalls fremd sind, kein Fall bekannt, daß trotz dieses Defizits jemand verhungert wäre. Vor einigen Tagen war ich in Berlin, Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Rings um den Nollendorfplatz sah ich endlich das, was Hildigund für die DDR halluziniert hatte: Ältere Herren, habituell nicht eben Stadtstreichern ähnlich, untersuchten mit gesenktem Blick sorgsam Papierkörbe und füllten sich Plastiktüten, nicht etwa mit leeren Flaschen, sondern mit Resten, die von den eiligen oder satten Kunden der vielen Imbißstände entsorgt worden waren. Es kann aber sein, daß das überhaupt keine soziale, sondern eine sozusagen kulinarische Ursache hatte, denn Köstlichkeiten wie Döner oder ähnliche Exoten gab es in der DDR natürlich nicht. Andererseits hat Berlin, wie Konservativ und Liberale das gerne so bezeichnen, einen rot-roten Senat, diese Farbe aber steht für Sozialismus, und dieser zeichnet sich bekanntlich durch Mangelwirtschaft aus. Überdies scheint der Sozialismus mal wieder als Gespenst in der kapitalistischen Welt umzugehen, denn anders kann der Ruf nach der Verstaatlichung der großen Banken als Reaktion auf die große Krise nicht verstanden werden. Daß Hildigund die Zunahme der Zahl der Bedürftigen dieser Gesellschaft nicht wahrnehmen kann, ist ihrem missionarischen Eifer geschuldet, mit dem sie Aufklärungsarbeit leisten muß, über die weitaus schlimmere zweite deutsche Diktatur. Freundliche Menschen haben in vielen deutschen Städten »Tafeln« gegründet, um die Armen und Ärmeren zu speisen. Von den Politikern wird dies mit Wohlwollen betrachtet und gelegentlich auch unterstützt, vermutlich um die Papierkörbe zu schonen.

Werner Abel

Junge, schick’ die Wäsche!

Dem Berliner Publikum kann man nichts vormachen. Als sich Madeleine Lierck-Wien vor Beginn des Programms lautstark darüber echauffiert, daß weder ihr musikalischer Begleiter Petko Datschev noch ihr Herr Sohn Fabian pünktlich erschienen sind, kommt die Frage aus dem Parkett: »Dit jehört wohl schon dazu?« Und natürlich sind die beiden da, und das Spiel kann beginnen.
Vor 110 Jahren brachte Ida Kästner in Dresden-Neustadt ihren einzigen Sohn Erich zur Welt, der einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller werden sollte. Das Verhältnis von Mutter und Sohn blieb zeitlebens eng. Da lag es für Madeleine Lierck-Wien nahe, sich gemeinsam mit ihrem schauspielernden Sohn Fabian Oscar Wien dem Leben und Werk Kästners zu nähern. Gemeinsam stellten sie einen literarischen Abend zusammen, der auf anregende Weise zwischen ernst und heiter changiert, wie es dem Leben Kästners wohl angemessen ist. »Die Zeit fahrt Auto – aber keiner kann fahren« heißt ihr Programm, das in der noch neuen Spielstätte Charly M. (nach dem Namensgeber der Karl-Marx-Allee) vom Hausherm Peter Tepper inszeniert wurde. Tepper nutzt die Stärken seiner Protagonisten, läßt sie singen und stellt das Sächsische nicht in den Vordergrund. Fabian Oscar Wien, dem das Verschmitzte die Wiege gelegt wurde, kann auch erschüttern, wenn er beispielsweise das Gedicht vom Sergeant Waurich, dem Menschenschinder, vorträgt, wobei ihm eine kluge Lichtregie zu einer noch stärkeren Wirkung verholfen hätte. Madeleine Lierck-Wien ist durchaus nicht nur die Mütterliche. Sie schlüpft in viele Rollen, und das »Angebot ohne Nachfrage« ist ein komödiantisches Glanzstück. Den besonderen Reiz gewinnt das Programm zweifellos daraus, daß Mutter und Sohn die Texte vortragen. »Junge, schick’ die Wäsche«, fordert die Dresdnerin den Sohn auf, der inzwischen Berliner geworden ist. Und wenn die Post wegen der feindlichen Fliegerangriffe im Krieg nicht funktioniert, bringt »Muttchen« das Paket selbst nach Berlin.
Zum Glück reisen die beiden Darsteller mit diesem Programm auch umher, denn: »Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es!«

Frank Burkhard

Nächste Vorstellungen bei Charly M.:7. April, 5. u. 10. Mai

Rückkehrer

Er ist zurück und sobald er Lust hat, will er auch wieder selber Politik machen. Dieter Althaus. Seine Frau drohte gleich allen, die gehofft hatten, ihn loszuwerden, daß er wieder der Alte sei. Schade, ich hätte mir gewünscht, daß er aus der Sache irgendwie verändert herausgekommen wäre. Aber er agiert wieder, wie Politiker eben agieren: Alles Kalkül, alles auf mögliche Risiken und Nebenwirkungen geprüft. Da ist nichts echt. Angeblich wolle er wieder rein in die Politik, dabei war er da nie raus. Sein Lebenswerk findet er nahezu unverändert vor: In Thüringen werden nach wie vor die niedrigsten Löhne in Deutschland gezahlt. Wenigstens hat er (bisher) neben den angeblichen Standortvorteilen, die niedrige Löhne bringen sollen – allerdings sagen das nur Leute, die an einem leicht eingeschränkten ökonomischen Sichtfeld leiden –‚ noch nicht das Argument gebracht, daß mehr Geld auch nicht viel nütze, weil ja alles in jedem Moment vorbei sein könne.

Ove Lieh

Brech-Reiz

Kleine Verlage haben‘s schwer. Ganz und gar linke, beziehungsweise solche, die sich dergestalt definieren. Daß bei der Eigenwerbung deshalb auch zu Mitteln gegriffen wird, die sonstiger Ächtung anheimfallen, kann man ja irgendwie verstehen. Inwieweit der noch immer mitteilsame Egon Krenz mit dem glücklich ist, was die Eulenspiegel-Verlagsgruppe (Das Neue Berlin, Neues Leben, edition ost u. a.) in einem vierseitigen Werbeblatt anderen Druckwerken beigelegt hat, darf man – hoffentlich berechtigt! – bezweifeln. Krenzens »Gefängnisnotizen« werden jedenfalls mit einer roten Überschrift versehen, die sonst Bild, BZ und Konsorten zur nahezu täglichen Unehre gereicht: Egon Krenz bricht sein Schweigen!
Warte nur, balde brichst auch Du …
Willkommen im Klub!

Hans Jahn

Wirsing

In der Berliner Innenstadt fanden sich Plakate, die ein Konzert ankündigten: »Ulli und die Grauen Zellen«. Graue Zellen sind ja ein Begriff, aber wer ist Ulli? »Unser Abendschau-Moderator Ulli Zelle« verbirgt sich dahinter. Abgesehen von der einvernehmlichen Formulierung, die sehr an »unsere Deutsche Demokratische Republik« oder wenigstens »unser Sandmännchen« erinnert, können sich auch Abendschau-Stammzuseher nicht erinnern, daß Ulli Zelle jemals eine Sendung moderiert hätte, weil er nämlich als Reporter mehr als ausgelastet ist. Es kam schon der Verdacht auf, daß er die Sendeleitung erpreßt, weil kaum eine Abendschau ohne ihn über den Sender geht. Schön daß er jetzt eine späte Gesangskarriere beginnt. Dann hat unser Ulli vielleicht nicht mehr so viel Zeit für den Bildschirm.

Fabian Ärmel