von Gerd Kaiser
Eine als »Streng geheim« eingestufte Liste übermittelte Igor Kurtschatow, der führende sowjetische Kernforscher jener Zeit, dem Volkskommissar für Innere Angelegenheiten der UdSSR, Lavrenti Berija. Das war am 8. Mai 1945, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. Die Liste nannte 34 Namen deutscher Kernphysiker, den Sitz ihrer Forschungsinstitute, und traf ein knappes Urteil über die Wertigkeit ihrer Forschungen aus sowjetischer Sicht. An fünfter Stelle in dieser Liste, wurde nach Werner Heisenberg, Otto Hahn, Fritz Straßmann und Walter Bothe Manfred von Ardenne genannt: »Weltbekannter Wissenschaftler, Fachmann für elektromagnetische Forschungsmethoden «. Zwei Tage später, am 10. Mai 1945, schrieb Manfred Baron von Ardenne an den »Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare der UdSSR«, Herrn Jossif Stalin: »Bezugnehmend auf die heutige Besichtigung meines Forschungsinstituts (Berlin-Lichterfelde Ost, Jungfernstieg 19) und des von mir bislang geleiteten vormaligen Instituts für Kernphysik beim Reichspostministerium, versichere ich Sie, das ich mit besonderer Zuversicht die gemeinsame Zusammenarbeit meiner vorstehend erwähnten und uneingeschränkt arbeitsfähigen Institute mit zentralen wissenschaftlichen Instituten der UdSSR begrüße.«
Das Forschungsinstitut am Jungfernstieg, am Südrand von Berlin gelegen, war ein Privatunternehmen von Ardennes, das von ihm geleitete Institut in Zeuthen-Miersdorf, zwischen Berlin und Königs Wusterhausen, befand sich in Staatsbesitz. »Besichtigt« wurden diese und weitere deutschen Kernforschungszentren von den Mitgliedern einer Sonderkommission, die Generalmajor Wassili Machnew leitete. Dieser hatte zwar keine Erfahrungen in der Kernforschung, dafür aber einen Befehl von Lavrenti Berija, einem Henkersknecht von Stalins Gnaden und seit 1941 Mitglied des Staatskomitees für Verteidigung (GKO) der UdSSR mit besonderer Zuständigkeit für die Entwicklung der Kernforschung. Machnew war seit 1945 unter anderem Chef des Sekretariats des von Berija geleiteten Sonderkomitees, bis er ab 1953 als Leiter einer Verwaltung in dem als Ministerium für Mittleren Maschinenbau getarnten Kernwaffenrüstungsprogramm der UdSSR eingesetzt wurde.
»Meine Institute«, erläuterte Baron von Ardenne, »arbeiten derzeit an folgenden Themen:
1. Elektronenmikroskopische Forschungen an den beiden derzeit in der Welt leistungsfähigsten Elektronennmikroskopen;
2. Forschungen zur Kernphysik …
3. Massespektrometer zur chemischen Analyse gasförmiger, flüssiger und fester Teilchen;
4. Endfertigung eines 60-to-Zyklotrons.«
Mittels der von ihm erfundenen Geräte und Verfahren sowie des von ihm erfundenen 1-Me-V-Bandgenerators arbeiteten die Ardenneschen Forschungsinstitute seit 1944 unter anderem an Neutronenaktivisierungsanalysen und weiteren Grundsatzfragen der Kernphysik.
»Mit dem heutigen Tag«, so endete der Brief, »stelle ich mich und meine Institute zur Verfügung der Sowjetregierung. Mit vorzüglicher Hochachtung«.
Die »vorzügliche Hochachtung« war nicht nur eine Floskel, sie unterstrich eine Haltung, die beide Seiten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, einander entgegenbrachten. Für Kurtschatow war es »von besonderer Wichtigkeit «, daß wir »für unser Projekt der Atombombe« Genaueres über den Forschungsstand deutscher Wissenschaftler erfahren.
Am 16. Mai 1945 unterzeichnete Lavrenti Berija den Befehl Nr. 00539. Ihm zufolge waren nicht nur die Anlagen des Instituts Manfred von Ardennes zu demontieren, sondern auch die Uranvorräte des Unternehmens Auer in Oranienburg zu requirieren. Eine spezielle Produktionsstätte zur Aufbereitung des Urans in Rheinsberg-Zechlin gehörte ebenfalls zur Kriegsbeute. Zu demontieren waren weiterhin die Anlagen des Instituts für Physik der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Berlin, das Zyklotron-Laboratorium des Unternehmens Siemens in Berlin sowie das komplette Forschungsinstitut von Gustav Hertz in Berlin, das gesamte eingangs erwähnte und durch Ardenne geleitete Forschungsinstitut beim Reichspostministerium und schließlich die Kernforschungsanlage der Wehrmacht in Gottow bei Berlin, die sich auf dem Gelände des Artillerieschießplatzes Kummersdorf Gut befand. Dem Abtransport unterworfen waren auch die entsprechenden wissenschaftlichen Bibliotheken. Kurtschatow und weitere mit dem sowjetischen Atomprojekt befaßte Wissenschaftler und NKWD-Mitarbeiter waren »unverzüglich« nach Berlin abzukommandieren, und der Statthalter Berijas in der Sowjetischen Besatzungszone, der NKWD-General Iwan Serow, hatte die Operation umfassend zu unterstützen »und die lückenlose Sicherung der Demontage der Institutionen und Anlagen, deren Ausrüstung und Materialien« sowie deren Abtransport zu gewährleisten.
Sie wurden zu einem wichtigen Bestandteil des Atomforschungsprogramms der UdSSR, auf das Igor Kurtschatows Laboratorium Nr. 2 bei der Akademie der Wissenschaften entscheidenden Einfluß hatte. Die Verwaltung Sondermetalle des NKWD des Sowjetstaates erhielt im Rahmen dieser Operation direkten Zugriff auf annähernd 500 Tonnen Uran.
Manfred von Ardenne war seit Mai 1945 Forschungsdirektor des Instituts »A«, das für ihn und seine Mitarbeiter im Gebäudekomplex eines ehemaligen Erholungsheims bei Suchumi, in Abchasien am Schwarzen Meer, eingerichtet wurde. Hierhin kamen auch die in Berlin demontierten Anlagen. In Suchumi, in unmittelbarer Nachbarschaft, befand sich das Institut »G« (abgeleitet vom Familiennamen des Nobelpreisträgers Hertz, weil die russische Sprache kein »H« kennt und das »H« in fremden Sprachen zumeist als »G« kodiert wird). Ein drittes Spitzenforschungsinstitut im sowjetischen Atomprojekt mit deutschen Wissenschaftlern arbeitete in Obninsk, es wurde von Heinz Pose geleitet.
Die ursprüngliche Absicht Igor Kurtschatows und der Seinen, alles und alle mit Bezug zur Kernforschung in eigener und alleiniger Verfügungsgewalt zu behalten, wurde durch eine von höchster Stelle der Sowjetregierung getroffene Entscheidung durchkreuzt. Diese setzte auf eine Konkurrenzsituation und gründete deshalb drei Forschungsinstitute unter deutscher wissenschaftlicher Leitung. Insgesamt befanden sich ab 1945/47 mehr als 200 deutsche Kernforscher mit ihren Familien in der UdSSR. Ihr Beitrag zur sowjetischen Kernforschung war wesentlich für den Bau der ersten sowjetischen Atombombe, die am 29. August 1949, vier Jahre nach Kriegsende, und dem ersten Einsatz amerikanischer Atombomben gegen die Städte Hiroshima und Nagasaki gezündet wurde. Zahlreiche deutsche Kernforscher in Diensten der Sowjetunion erhielten hohe und höchste Auszeichnungen des Sowjetstaates. Manfred von Ardenne wurde 1947 und nochmals 1953 mit dem Stalinpreis ausgezeichnet. Im Dezember 1954 kehrte er nach Deutschland zurück und gründete auf dem Weißen Hirsch in Dresden das einzige privatwirtschaftliche Forschungsinstitut in der DDR. Er verstarb im Mai 1997.
Zum Weiterlesen: Sowjetskaja wojennaja administrazija w Germanii 1945-1949. Dejatel’nost’ Uprwalenija SWAG Po Izutscheniju Dostisheniij Nemezkoj Nauki I Techniki W Sowjetskoj Zone Okkupazii Germanii 1945-1949. Dokumenty. Materialy, Issledowanija Moskwa 2007, 440 Rub.
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