Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 30. März 2009, Heft 7

An der Heimatfront

von Klaus Hansen

Perfekt geschützt: Für seine Sicherheit wird alles getan. Der Kölner Oberbürgermeister ist der am besten bewachte Mensch der Domstadt. Wenn er von seinem Wohnsitz zu seinem Amtssitz gebracht wird, sind vier große Limousinen und zwanzig Bodyguards unterwegs. Außerdem überwacht ein Hubschrauber die täglich wechselnde Fahrtroute. Als die Autos mit den verdunkelten Scheiben wieder einmal das Rathaus erreicht hatten, stellte man mit Entsetzen fest, daß sich in keiner der vier großen Limousinen der Oberbürgermeister befand. Der saß zu Hause und wartete darauf, endlich abgeholt zu werden. Was wie ein Versagen der Sicherheitskräfte erscheint, war in Wahrheit das Gegenteil: eine Meisterleistung der Security. Denn der beste Schutz für Leib und Leben, zumal für das Oberhaupt der »einzigen italienischen Stadt nördlich der Alpen« (Köln über Köln), besteht darin, vergessen zu werden.
PS: Nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs, bedingt durch mafiose Klüngelwirtschaft beim U-Bahn-Bau, schrieb Leserin Hedwig Schmitz der örtlichen Tageszeitung: »Köln als ›einzige italienische Stadt nördlich der Alpen‹ ist ja schön und gut – aber muß es denn gleich Neapel sein?!«

Multiplex: Philipp war gewillt, es sich gutgehen zu lassen. Heute war Kinotag. Und im Kino wollte er sich fühlen wie auf dem Sofa daheim. Einfach gemütlich sollte es sein. Also orderte er eine extragroße Portion frisches Popcorn. Der indisch aussehende Verkäufer, ein freundlicher kleiner. Mann, überreichte ihm die warme Knistertüte, in der allerdings noch bedenklich viel Luft nach oben war, wie Philipp feststellen mußte. »Listen, Mahatma«, beugte sich Philipp vor, »tu da lieber noch‘n Schippchen drauf«, sein Ton klang wenig gemütlich, »sonst sitzt du bald wieder auf dem Floß, das dich hier angeschwemmt hat!«
Der freundliche Inder lachte in die Richtung des Kunden, ohne ihn anzuschauen, dabei nickte er mechanisch mit dem Kopf. Philipp glaubte nicht, daß der Braune auch nur ein Wort verstanden hatte, zumal er nichts unternahm, um die Tüte aufzufüllen. »Mahatma ist gut, eine gute Idee«, sagte der Inder dann, fast feixend und im rheinländischen Tonfall, »ma hat ma Glück, ma hat ma Pech, ma hat ma Gandhi. Schönen Tag noch!« Die Antwort traf Philipp unvorbereitet. Die Hoffnung, sich im Kino wie zu Hause zu fühlen, war ihm mit einem Schlag genommen worden.

Dialog mit der Jugend: Die sogenannten jungen Wilden, also Nachwuchspolitiker aller Parteien, keiner unter 35, hatten anderthalb Stunden auf dem Podium miteinander diskutiert. Über Atommüll und Jugendgewalt, über Bankenkrise und Schuldenberge, über Arbeitslosigkeit und Ozonloch. Kein Thema, daß groß genug gewesen wäre, um ihnen die Sprache zu verschlagen.
Dann endlich sollte das »zahlreich erschienene«, wie die Moderatorin bei der Begrüßung gelobt hatte, und erstaunlich brave junge Publikum selbst zu Wort kommen: »Feuer frei für Ihre Fragen!« Im Saal entstand Gemurmel und Gekicher. Keiner, der sofort zu einem der Saalmikrofone gelaufen wäre. Aber das kennt man ja. Die erste Äußerung ist immer die schwerste, weil sie die meiste Überwindung kostet. Das weiß auch die Moderatorin und ergreift erneut das Wort: »Nur Mut zur ersten Frage, die bekanntlich das Eis des Schweigens bricht. Wer von euch traut sich und macht für uns alle den Eisbrecher?« Das erneute Gemurmel und Gekicher unterschied sich allein durch einen krächzenden Einwurf vom ersten Gemurmel und Gekicher. »Eisbrecherin!«, hatte eine Mädchenstimme dazwischengerufen.
Endlich sieht man, wie eine Hand nach oben geht. Ein junger Mann steht auf und eilt mit kurzen Tippelschritten zum Mikro: »Ich hätt da gleich mal ‘ne echte Frage: Wo kann man hier eigentlich pinkeln gehen?« Gemessen am daraufhin anschwellenden Applaus, spricht er vielen Anwesenden aus dem Herzen. Die Moderatorin schaut ihre Podiumsgäste links und rechts an. Man schaut sich gegenseitig an. Achselzucken. Die Moderatorin kleidet schließlich ihr Bedauern in einen leicht beleidigten und gedämpft vorwurfsvollen Ton: Man sei nicht von hier, sondern aus allen Teilen der Republik angereist, um der örtlichen Jugend Antworten auf die brennenden Fragen unserer Zeit zu geben.
Aber in den Räumlichkeiten des gastgebenden Hauses kenne man sich leider nicht aus. »Sorry«, sagt die Moderatorin, nochmals mit der Achsel zuckend. Was nun geschah, erschien wie ein großes, kollektives Sorry. Die anwesende Jugend erhob sich von den Plätzen und verließ in Scharen den Raum. Ein Kommentar mit den Füßen, der, in Worte gefaßt, vielleicht so gelautet hätte:
Was sollen wir von Experten für alle Probleme dieser Welt halten, wenn sie nicht einmal wissen, wo das Scheißhaus um die Ecke ist!

Home sweet home: Wenn ein Karpfen in einem ollen Waschbecken aufwächst, fragt Willem, wird er es später wohl »Heimat« nennen, sein olles Waschbecken? Gewiß, ja, möchten wir meinen, aber er wird sie hassen, hassen wie die Pest, seine kleine, schmuddelige und enge Heimat. Und er wird stolz sein, wenn er sie erfolgreich hinter sich gelassen hat. Angenommen, der Karpfen kehrt nach vielen Jahren der Weltläufigkeit in seine kleine Scheißheimat zurück und findet ein Autobahnkreuz vor, wo einst sein olles Waschbecken war. Wie wird er reagieren? Er wird sie vermissen, seine Heimat. Er wird entdecken, daß er sie geliebt hat, geliebt wie nichts zweites auf der Welt. Denn Karpfen können nur das lieben, was man ihnen weggenommen hat. Also wird er sich der radikalen Heil-Butt-Bewegung anschließen, um der Forderung nach der sofortigen und bedingungslosen Rückgabe des ollen Waschbeckens den nötigen Nachdruck zu verleihen.

An der Heimatfront: Zehn Tage nach dem 11. September 2001 wurde die Bahnstrecke zwischen den Städten Köln und Aachen für fünf Stunden gesperrt. Zugverspätungen von einem ganzen Tag waren die Folge. Die jüngsten Vorgänge in New York hatten den Lokführer sensibel gemacht. In Höhe des Ortes Horrem war ihm eine Person aufgefallen, die beim Näherkommen des Zuges »Hals über Kopf«, wie er sich ausdrückte, »im Streckenbegleitgrün« (für Normalsterbliche: Gebüsch) untergetaucht sei. Daraufhin wurde der Bahnverkehr eingestellt. Bewaffnete Kommandos des Freiwilligen Heimatschutzes durchkämmten weiträumig das Gelände. Sie stießen auf einen siebzigjährigen Rentner, der einen mattgrauen Hohlkörper aus Aluminium mit sich führte.
Nach einer Ultraschall-Untersuchung gaben die Sprengstoffexperten Entwarnung. Es handelte sich um einen Henkelmann aus den Beständen der Wehrmacht. Der Mann gab vor, nur ein Brombeerpflücker zu sein. Das genügte der Boulevardpresse, um ihn »Osama Bin Pflücken« zu nennen. Die Deutsche Bahn zögerte nicht, ihren Kampf gegen die Osamas dieser Welt auf. zunehmen. Unverzüglich begann man mit der landesweiten Rückversetzung aller Brombeerhecken um zehn bis fünfzehn Meter vom Gleiskörper. »So sieht ökologieverträgliche Terrorismusbekämpfung aus!«, prahlte der Vorstandschef. Eine dreiprozentige Fahrpreiserhöhung dürfte aus diesem Grunde realistisch sein, prophezeiten die Experten. »Aber das sind doch Pienatz«, hörte man die Bürger Horrems sagen, »schließlich geht es hier um die Sicherheit von uns allen.«