Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 2. Februar 2009 , Heft 3

HAP Grieshaber 100

von Klaus Hammer

1950 begann er großformatig zu arbeiten und schuf mit seinen bis zu zwei Meter hohen, stark farbigen Holzschnitten etwas für die damalige Zeit vollkommen Neues – und erreichte damit, daß die handgedruckte Grafik nach 1945 überhaupt wieder eine Rolle zu spielen und dem Holzschnitt so langfristig die Wirkung und Bedeutung eines Tafelbildes zuzukommen begann.

In der jetzt anläßlich seines 100. Geburtstages gezeigten Jubiläumsausstellung im Kunstforum der Berliner Volksbank bilden diese großformatigen Holzschnitte der fünfziger Jahre – »Frühling«, »Berolina«, »Panzerpan«, »Motorrad«, das Diptychon »Schmerzensbild«, »Deutschland«, »Freunde«, »Herbst« – den Mittelpunkt der Schau. Was soll man mehr bewundern: die monumentale Verspannung der Liniengerüste, die Kühle und metaphorische Kühnheit der Aussparungen, den heraldischen Sinn für Farben oder das Geheimnis der Raumlosigkeit, das schon in den frühen Blättern erstaunt?

Der in Alarmzustand versetzte Menschenzug mit Pferdegespann und einem aufgeladenen Rettungsboot im Holzschnitt »Deutschland« sollte 1952 die dramatische gesamtdeutsche Situation versinnbildlichen: Nach dem Schiffsbruch des Dritten Reiches war sofortiges und gemeinsames Handeln zur Rettung des Landes nötig. Als Vorlage hatte dem Künstler eine recht banale Postkarte mit einer heldenhaften Darstellung von zum Einsatz gerufener Rettungsmänner gedient, aus der er in der ihm eigenen verschlüsselten Bildsprache gleichnishaft zusammenfaßte, was die Lage erforderte: »Wir sitzen alle im gleichen Boot«, »Taten sind notwendig«, »Es muß sofort gehandelt werden«. Nach einem Aufenthalt in Berlin, der »Frontstadt« des Kalten Krieges, entstand der Holzschnitt »Berolina«, der an die Berlin-Blockade 1948/49 erinnert und an die alliierte Luftbrücke, die die Westsektoren der Stadt versorgte. Eine »ältliche Dame«, so nennt der Künstler West-Berlin, wird von einem Geier bedroht – und deshalb muß ihr geholfen werden. Grieshaber hat den Ost-West-Konflikt als Bedrohung empfunden und trat in Ost und West für das Verbindende der gemeinsamen Kultur ein. Seine Folge »Totentanz« hat er im Westen geschnitten, in Leipzig gedruckt und 1966 in Dresden veröffentlicht. Er war ein Brückenbauer zwischen Ost und West.

Wenngleich sich in Westdeutschland sehr schnell abstrakte Tendenzen in der Kunst verbreiteten, blieb Grieshaber der Figürlichkeit treu. Dies war entscheidend, weil er auf diese Weise politische und gesellschaftskritische Themen, die Mißstände weltweit zur Sprache brachten, deutlicher formulieren konnte. Der Figur kommt in seinen Arbeiten meistens die Aufgabe zu, Symbol für das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Natur, für Jahreszeiten, aber auch immer wieder für politische Geschehnisse zu sein. Er geht in seinen Holzschnitten zum Ursprung zurück, beschwört und feiert die Einheit der Landschaft und ihrer Kreatur. »Truthahn« (1956), »Hahn« (1958), »Ente« und »Milchschaf« (1960, 1959) und manch andere Motive verwandelten sich unter seinen Händen in mythische Figurationen. Pan, Faun, Engel oder Passion, Motive aus geschichtlicher Überlieferung, der Antike oder der Bibel sind seine Form gewordene Antwort auf die Gegenwart. Mitunter scheinen die Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Daseinsformen aufgehoben, Landschaft, Mensch, Tier gehen ineinander über, werden austauschbar.

Die »Koreanische Mutter« (1950), Bild der bitteren Trauer der Mütter um die Vernichtung von Leben, hat Grieshaber in der Nacht nach dem Ausbruch des Koreakrieges geschnitten, gedruckt und das Plakat am Morgen selbst in Reutlingen angeschlagen. In der Holzschnittfolge »Die dunkle Welt der Tiere« (1959) setzte Grieshaber Zeichen für den Traum, daß die Fremdheit zwischen den Kreaturen aufgehoben sei. Im Vietnam-Krieg wird »NucNuc« (1964), sein vietnamesisches Hängebauchschwein, zum Inbegriff der einer immer perfekteren Maschinerie hilflos ausgesetzten Kreatur. Ein schwarz-weißer Totentanz reflektiert den eigenen Tod, »Tod und Drucker« (1965): »Es sind zwei Totengeister, die den Drucker abholen kommen: der Redaktor und ein Schriftsetzer«, schreibt Grieshaber. Darstellungen der Engel gehören wie Tier und Mensch, Landschaft und Paar zu seinen immer wiederkehrenden Themen. Nach einem »Gestürzten Engel« von 1960 erscheinen 1962 als Buch die »Sieben Engel«: mit der Trompete, vor Jericho, im Feuer, mit der Schalmei, mit einen Flügel, im Sturm und der »siebente Engel«. Auf die Usurpierung der Macht durch die Junta in Griechenland 1967 reagierte er sofort mit dem »Hellas-Engel«, einem blutenden hellenischen Stier. Die Ermordung von Martin Luther King war Anlaß für die 9. Folge »Der Engel der Geschichte, I have a dream« (1968). »Vietnam – Gespräch über Bäume« (1971) zeigen zehnmal Panzer, schwarz, monströs, unaufhaltsam Lebendiges niederwalzend. »Nun sprechen die Kamele« (1971) ist eine Beschwörung für den Frieden im Nahen Osten.

Grieshaber hat noch in seinen letzten Lebensjahren – er ist 1981 auf der Achalm über Reutlingen gestorben – schmerzlich erleben müssen, wie die Massenkunst, die Schnellebigkeit und computerunterstützte Kunst dem Holzschnitt den Rang ablief. Zu erleben, wie dem Holzschnitt heute erneut starke Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, wäre ihm eine Freude gewesen.

HAP Grieshaber 100 – Zeitgeschehen und Natur. Kunstforum der Berliner Volksbank, Budapester Str. 35/Ecke Kurfürstendamm, täglich 10 bis 18 Uhr, bis 19. April