Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 2. Februar 2009 , Heft 3

Bewertungen

von Ove Lieh

Mal ganz ehrlich, können Sie sich was Konkretes darunter vorstellen, wenn jemand sagt, die Wirtschaft werde um ein Prozent schrumpfen? Und worin der Unterschied zu dem besteht, der von 0,8 Prozent oder 1,3 Prozent spricht? Welche Zahl jagt Ihnen mehr Angst ein? Oder jagt vielleicht keine? Für dieses Jahr wird von uns ein Kraftakt gefordert. Weiß jemand, was damit gemeint ist?

Es scheint relativ schwierig zu sein zu verstehen, was über die Wirtschaft gesagt wird. Von den Folgen für den einzelnen ganz zu schweigen. Die weiß man erst genau, wenn sie da sind. Vorhersehbar sind sie für viele Menschen nicht. Und so versuchen sie, sich die Zukunft aus Bekanntem und Fiktivem zu konstruieren. Ich habe von der kognitiven Verhaltenstherapie gelernt, daß ich mir ein realistisches Bild von den Zuständen machen und sie angemessen bewerten soll. Schwer, wenn man angesichts der Zustände schon wieder neue Zustände bekommt, die dann auch wieder bewertet werden wollen. »Die Menschen werden nicht durch die Dinge beunruhigt, sondern durch die Ansichten, die sie darüber haben.« (Epiktet)

Aber gerade mit den Bewertungen tut man sich schwer, insbesondere, wenn man sie öffentlich abgibt. Sie haben dann eine starke polemische Komponente, was wir in diesem Jahr wohl wieder ausgiebig beobachten und vielle icht auch praktizieren werden. Nehmen wir ein Beispiel: Uwe Steimle hat nach seiner, nun ja, Verabschiedung aus der ARD-Serie »Polizeiruf 110«, gesagt, der NDR habe auch wegen der Gebührengelder aus Mecklenburg/Vorpommern die Aufgabe, im Polizeiruf die soziale Wirklichkeit der Menschen dort zu erzählen. Die Sehnsüchte, die Mentalität, die Lebensumstände würden aber in keiner Weise verantwortungsvoll beschrieben. »Ich behaupte, wir leben in einem besetzten Land, über uns wird berichtet.« Nun ja, besetztes Land. Vielleicht trifft es der Ausdruck »besessenes Land« besser, und zwar vorrangig von anderen besessenes Land. Und die Besitzer wollen natürlich nicht nur die territorialen Hoheitsrechte, sondern auch die Deutungshoheit.

Warum nun sagte Steimle das nicht, als er noch Polizeirufer war? Hatte er das da noch nicht erkannt? Unsere Bewertungen hängen offenbar davon ab, wie es uns gerade ergeht. Ergeht es uns schlecht, haben die Verhältnisse nichts zu lachen. Jedenfalls was ihre Bewertung angeht. Ergeht es uns gut, haben wir einen Bewertungsspielraum zwischen: Gutgehen trotz, angesichts oder wegen der Verhältnisse. Sonderfall(e): Mir geht es zwar gut, aber anderen nicht. Wir kommen darauf zurück.

In diesem geschichtsbeladenen Jahr sei noch ein Phänomen erwähnt. Auch die Sicht auf vergangene Zeiten wird stark überformt von dem Bild davon, wie es einem gerade ergeht. Und über dieses Bild wiederum kann es Streit geben. Ich erinnere an Lothar de Maizière, der auf die Klage der Ostdeutschen, sich als Menschen zweiter Klasse zu fühlen, erwiderte, das sei doch ein Fortschritt, schließlich seien sie vorher Menschen dritter und vierter Klasse gewesen. Der Blick zurück wird zuweilen stärker vom gegenwärtigen Ergehen als vom seinerzeitigen geprägt. Da wiegt ein hoher Preis für Bananen heute schwerer als ihre überwiegende Abwesenheit damals, als sie, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, auch nicht gerade verschenkt wurden. Aber Geld war ja da, es gab nur nicht genug zu kaufen. Mancher, der sich heute bedrängt fühlt, vor allem durch soziale Probleme, sehnt sich zurück nach Zeiten, als sie solche Bedrängnisse nicht kannten. Sie setzen an deren Stelle auch kaum andere Bedrängnisse, weil sie solche nicht erinnern. Sie betrafen andere Leute, die ihnen schon damals relativ egal waren. Man mußte sich ja nicht anlegen mit den Herrschenden, heißt es da vielleicht. Opfer, die einem nicht leid taten, als sie noch Opfer waren, werden schwerlich Empathie bei jenen finden, die sich gerade selbst als Opfer fühlen.

Nur der kleine Teil der Gesellschaft, der sich ernsthaft mitverantwortlich fühlen will für das Leben der anderen, wird bereit sein, seine Bewertung von gegenwärtigen wie vergangenen Zuständen nicht von seinen Ergehen beeinflussen zu lassen. Und da kommt der oben erwähnte Sonderfall wieder ins Spiel, der sich leicht als Falle erweisen kann: Wenn man zwar selbst nichts auszustehen hat(te), aber die Verhältnisse wegen ihrer Wirkung auf andere Menschen nicht akzeptieren kann, und das im globalen Rahmen, dann könnte dieses Jahr tatsächlich eins der schlechten Nachrichten werden, so wie das vergangene keins der wirklich guten war!