Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 19. Januar 2009 , Heft 2

Alfred Wolfenstein

von Bernhard Spring

Wieder einmal ist ihm das Geld ausgegangen. Eigentlich ist dieser Umstand keine Besonderheit, immerhin lebt er bereits seit Beginn des Studiums von der Hand in den Mund und der Großzügigkeit aller möglichen Verwandten. Und nicht zuletzt auch von den kleinen Beträgen, die sich seine Mutter abspart, indem sie die an sich schon enge Wohnung mit Untermietern teilt und sich selbst jeden noch so bescheidenen Luxus versagt. Trotzdem schwanken die überschaubaren Geldbeträge, die ihm zur Verfügung stehen, stark, ja, erreichen auch schon einmal den Nullpunkt. Dann wird sein Zimmer in der Hallenser Hedwigstraße eben nicht beheizt, und auch die Mahlzeiten fallen spärlicher aus. Er weiß sich einzuschränken, ihm sind solche Phasen vertraut, und doch fällt er immer wieder in schreckliche Depressionen.

An diesem 15. Mai des Jahres 1907 aber sind es nicht Lebensmittel, die er nicht bezahlen kann, sondern das Vorlesungshonorar des gesamten Semesters. Nicht nur, daß er den ehrwürdigen Dozenten, die nahezu alle im Krieg von 1871 ausgezeichnet worden sind, 120 Mark schuldig bleiben muß – dieses Malheur bleibt in seinen Akten vermerkt, so daß all seine künftigen Dozenten in seinem Anmeldebuch lesen können, daß ihm das Honorar gestundet wurde. Lediglich die zwei Mark Auditoriumsgeld und den Beitrag zur studentischen Krankenkasse in Höhe von zwei Mark kann er entrichten.

Ein schwacher Trost. Er streift nachdenklich an dem Löwengebäude vorbei, in dem er im vorigen Halbjahr so oft ein- und ausgegangen ist. Seine Lage sieht nicht gerade rosig aus: Wird er im kommenden Semester noch an der Königlichen Friedrichs-Universität studieren können, wird er überhaupt sein Studium je zu Ende bringen?

Als Alfred Wolfenstein am 28. Dezember 1883 in Halle geboren wird, sind die goldenen Zeiten der Gründerjahre längst vergangen. Sein Vater Heymann, der sich in der wirtschaftlichen Euphorie kurz nach der Reichseinigung aus dem westpreußischen Thorn zu der blühenden Handelsstadt an der Saale aufgemacht hatte, konnte die in der Großen Klausstraße 41 von ihm gegründete Textilwarenhandlung nicht halten, und auch als Eigentümer und Vermieter des Wohnhauses in der Dorotheenstraße 10 ist sein Einkommen alles andere als gesichert. Denn unter den Mietern herrscht ein Kommen und Gehen – und das, während die Familie Wolfenstein nach Heymanns Ehe mit Clara Latz um Alfred und dessen drei Jahre jüngere Schwester Sophie wächst und auf geregelte Finanzen angewiesen wäre.

Schließlich muß Heymann das Haus abtreten. Die Familie siedelt in den Großen Berlin 18. Jedoch gelingt es Heymann nicht mehr, in Halle wirtschaftlich Fuß zu fassen, und so versucht er sein Glück in Dessau. Dort gründet er 1889 die »Anhaltinischen Möbelhallen«. Diese Entscheidung mag etwas unbedacht gewesen sein, immerhin gibt es bereits einige Konkurrenz in der Stadt, weswegen Heymann sein Unternehmen schnell schließt und die alteingesessene Möbelhandlung von Julie Schwab übernimmt. Die war kurz zuvor verwitwet und ist froh ist, das Geschäft abstoßen zu können.

Endlich scheint das Familienauskommen gesichert, gerade rechtzeitig, bevor die beginnende Schulbildung des kleinen Alfreds neue Kosten verursacht. Da stellt der unerwartete Tod Heymanns die Familie vor neue Herausforderungen. Um die Ausbildung ihrer Kinder finanzieren zu können, führt Clara die Möbelhandlung ihres Mannes unter dessen Namen fort und bietet Privatstunden an – immerhin hat sie das Lehrerseminar besucht. Über die Aufopferung für ihre Kinder beginnt sie, sich an diese zu binden, was zunächst als fürsorglich, später aber besonders von Alfred als beklemmende Einschränkung empfunden wird. Tatsächlich gelingt es Clara, die Familie finanziell so weit über Wasser zu halten, daß Alfred 1899 die Untersekunda am Herzoglichen Friedrichs-Gymnasium abschließen kann. Dann aber sind alle Reserven aufgebraucht, an eine weitere Schullaufbahn und das in Aussicht gestellte Studium ist nicht zu denken.

Der stille Alfred, der sich Tagträumen und ersten Gedichten widmet, wird jäh aus seiner behüteten Welt herausgerissen und mit der Realität konfrontiert: Seine Mutter besorgt ihm eine Lehrstelle im Holzhandel. Der Junge ist darüber todunglücklich. Zwar beendet er die ungeliebte Ausbildung, doch er darf dann – mit Hilfe von Verwandten – am 4. März 1905 am Askanischen Gymnasium in Berlin sein Abitur machen.

So immatrikuliert er sich in den kommenden Semestern im badischen Freiburg, im königlich-bayrischen München und schließlich in der Hauptstadt Berlin. Das Rechtsstudium ist nicht von ungefähr gewählt. Seiner Mutter zuliebe hat er sich für ein Fach entschieden, das lukrative Zukunftschancen im Kaiserreich verheißt. Seine literarischen Versuche vernachlässigt Alfred keineswegs, doch betrachtet er sie eher als Freizeitvergnügen.

Den Sommer 1907 verbringt Alfred hauptsächlich in Halle und Dessau. Großartige Reisen oder andere Vergnügungen kann er sich nach dem Debakel um das gestundete Vorlesungshonorar nicht leisten, statt dessen ist er froh, daß er das Studium in Halle trotz anhaltend kleinem Budget fortführen kann. Um zu sparen, bezieht er ein kleineres Zimmer in der Hedwigstraße, zwei Häuser weiter von seinem bisherigen, und belegt im beginnenden Wintersemester nur sechs Kurse, darunter solche über Völkerrecht und Finanzwissenschaft. Die fälligen Honorare von insgesamt 50 Mark kann er, zusammen mit dem Krankenkassenbeitrag und dem Auditoriumsgeld, am 5. November 1907 vollständig bezahlen.

Am 6. März 1908 läßt sich Wolfenstein letztmalig die Teilnahme an einem Kurs in Halle bestätigen, neun Tage darauf endet das Semester. Sein Studium schließt er in Berlin ab. Er wird jedoch nie als Jurist tätig werden. Denn längst wurde sein erstes Gedicht in Franz Pfemferts Aktion veröffentlicht, ist sein erster Gedichtband, »Die gottlosen Jahre«, im S. Fischer-Verlag erschien – Alfred Wolfenstein etabliert sich unter den Berliner Expressionisten.

In seine Heimatstadt Halle kehrte Wolfenstein nie wieder zurück, die 120 Mark stehen als bis heute unbeglichen im Anmeldebuch der Universität.

Zigarette

Der Wind raucht eine Zigarette,
Sie liegt am Aschenschalenrand
Und dampft, als ob sie Atem hätte,
Durchs Zimmer, ohne Mund und Hand.

Die Hand, sie fand im weißen Bette
Statt grauen Rauchs ein Glück in Blau:
Es raucht der Wind die Zigarette,
Der freie Mund küßt eine Frau.

Alfred Wolfenstein