Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 8. Dezember 2008, Heft 25

Ungerecht

von Kathrin Schink

Das ist so ungerecht!« Die Stimme hinter mir gehört nicht etwa einer Fünfjährigen, die wütend ist, weil ihr Geschwister einen Bonbon mehr erhielt als sie, sondern einer hübschen nicht mehr ganz jungen Frau. Ihr rundliches Gesicht ist voller Empörung ihrer Gesprächspartnerin zugewandt, die eben zustimmend nickt.
Unwillkürlich lausche ich dem Fortgang des Gespräches, das mir offenbart, daß sich der Wunsch nach einem eigenen Kind bisher nicht erfüllt hat. Es folgt eine Beschreibung der zahlreichen Versuche, der Natur auf die Sprünge zu helfen. Und meine Gedanken schweifen ab, während ich in der Fensterscheibe der S-Bahn Spiegelbilder betrachte: Was ist an dieser Stelle Gerechtigkeit? Haben wir einen Anspruch darauf, Kinder zu bekommen, und ist es nicht eigentlich das naturgegebene Ergebnis aus dem Zusammenkommen von Mann und Frau?
Die Frau, immer noch sehr aufgeregt, hat in der Zwischenzeit die Hand des neben ihr sitzenden Mannes ergriffen. Mir fällt auf, daß auch er eher das rundliche Modell ist. »Wie süß!«, die Sehnsucht nach Familienglück könnte kaum deutlicher aus dem Tonfall der Frau klingen, als sie auf die Menschengruppe auf dem Bahnsteig deutet.
Die wirkt auf mich wie eine Großfamilie: Ein Großelternpaar und vier Paare, die die Eltern der herumwuselnden Kinder sein könnten. Bei ihnen scheint es reibungslos geklappt zu haben – eine Fortpflanzung im klassischen Sinne der Natur in der Erwachsenengeneration. Beim Durchzählen der Kinder bleibt es allerdings bei fünfen.
Mir fällt ein, daß Frauen in unserem Land durchschnittlich nicht einmal mehr zwei Kinder auf die Welt bringen, wodurch wir ohne Zuzug von außen vom Aussterben bedroht wären. Auch bei Migrantenfamilien, wo die Anzahl der Kinder in der ersten Generation nach Zuwanderung traditionell höher ist, sinkt diese schon in der zweiten Generation – spätestens in der dritten – auf den hiesigen Durchschnitt.
Hat dies etwas mit der Regulierungskraft der Natur zu tun? Greift hier der Mechanismus der natürlichen Gerechtigkeit, daß eine Art die ihre Nahrungsquellen im Übermaß verbraucht, in der künftigen Generation weniger wird, bis sich das natürliche Gleichgewicht wieder eingestellt hat?
In Regionen, die im Vergleich zu unseren Verhältnissen als arm gelten, ist die Zahl der Kinder deutlich höher. Vielleicht würde eine Statistik, die den Ressourcenverbrauch zweier flächengleicher Staaten mit unterschiedlichem Wohlstandniveau abbildet, zu dem Ergebnis führen, daß der Gesamtverbrauch gleich ist und eine Proportionalität zur Geburtenquote vorhanden ist.
»Schatz, bitte noch einen Versuch!« Der Satz hängt noch im Abteil, als die drei die S-Bahn schon verlassen haben und mein Blick von den vorbeihuschenden Bäumen eingefangen wird.