von Ben Setzdorf, z. Z. Ho-Chi-Minh-Stadt
Wer eine Woche in Asien zu Besuch war, hat alles ganz genau verstanden; wer sich dort einen Monat aufhielt, ist zumindest nachdenklich geworden; wer dort ein Jahr gelebt hat, schweigt. Ich bin nicht einmal sechs Tage in Ho-Chi-Minh-Stadt und kann also mit der Unschuld jenes schreiben, der zwar alles sieht, aber nichts versteht.
Seit der Autoverkehr zunimmt, sei in Saigon die Luft spürbar besser; am Anfang des Jahrzehnts habe man in der Innenstadt kaum atmen können. Dialektik à la Südostasien. Damals waren die Straßen noch fest im Besitz der Mopeds ohne Katalysator. Junge Frauen auf ihren Mopeds tragen zwar auch heute noch Mundschutz, doch die Luft wirkt trotz der tropischen Temperaturen nicht verpesteter als in Berlin oder in Frankfurt am Main.
Alte Autos gibt es in Saigon nicht, Fahrräder übrigens auch kaum noch. In dieser Stadt tobt ein wild entfesselter Kapitalismus. Von Ho-Chi-Minh-Stadt sprechen nur die Offiziellen; selbst an den – wenigen – Bussen steht mit völliger Selbstverständlichkeit Saigon. Die Innenstadt wird dominiert vom französischen Kolonialismus: Hotel Rex, das Hauptquartier der Amerikaner während des Vietnamkrieges; die Hauptpost, ein überladener Verschnitt aus allen Stilen vor Aufkommen des Jugendstils; die Stadtverwaltung, ein eher ruhiger Bau; die Kirche, ein Riesengebäude, dessen Skelett aus rosettenbeladenen Stahlrohren zusammengefügt ist – Industriearchitektur, spätes 19. Jahrhundert. Alles ist auf das feinste restauriert; die sonstige Architektur hat eher etwas Provisorisches.
Sonntags früh um zehn Uhr ist die Kirche brechend voll. Keine Alten, hier gibt sich die junge Mittelschicht ein Stelldichein, jene, die es aus dem allgemeinen Elend geschafft haben; viele Kinder, ganz gebannt. Alle treibt der Hexenkessel, der vor der Tür tobt, an diesen Ort. Sie sind auf der Sinnsuche. Gepredigt wird auf Englisch, die Gesänge in diesem katholischen Bau französischer Provenienz intonieren zu traditionell vietnamesischen Melodien wunderschöne Stimmen junger Frauen; das Abendmahl beginnt etwas früher als bei einer europäischen Messe. Anpassung war schon immer das Erfolgsrezept des Heiligen Stuhls – auch in diesem Land mit seiner Religionsfreiheit, die die kommunistische Führung so konsequent wie kaum eine andere Regierung der Welt pflegt.
Der Krieg ist in Saigon unsichtbar; der Sieg über die Amerikaner übrigens auch. Denn der Dollar ist das ganz selbstverständliche Zahlungsmittel; oft zeigt man sich überrascht, wenn eine Langnase mit Dong bezahlt, übrigens nicht unangenehm überrascht, denn der Dong ist frei konvertierbar. Mit Dollar lebt man allerdings billiger – wobei fast alles, außer Wein, ohnehin sehr billig ist, weil Arbeitskraft fast nichts kostet; Dritte Welt, konkret.
Mehr als die Hälfte der Vietnamesen ist nach dem Kriegsende von 1975 geboren; auch heute noch zeigen Neugeborene Schädigungen durch Agent Orange, dem Pestizid, mit dem die Amerikaner den schützenden Dschungel entlaubten. Fünf Millionen Vietnamesen leben heute mit solchen Schäden, und es werden täglich mehr. Die USA zahlen nichts.
Trotzdem ist der Krieg für die Jungen kein Thema – nicht nur in Saigon nicht, sondern im ganzen Süden Vietnams. Die Geschichte wirkt wie tiefgefrostet; nur die Offiziellen schwärmen vom geschlossenen Widerstand der gesamten südvietnamesischen Bevölkerung gegen die amerikanischen Besatzer – alles unter Führung der FNL und der kommunistischen Partei in Hanoi, versteht sich.
Millionen Tote drücken auf die Hirne der Lebenden. 1954 flohen nach dem Sieg über die französische Kolonialmacht bei Dien Bien Phu und dem Genfer Protokoll Frankreichs vietnamesische Satrapen zu Hunderttausenden aus der Hauptstadt Hanoi in den ihnen für zwei Jahre zugestandenen Süden. Die Amerikaner stützten sie. Geheimpolizei, Armee und Polizei, alle von den Franzosen bestens ausgebildet, rotteten in den folgenden Jahren den Viet Minh, die Widerstandsbewegung gegen die Franzosen, aus. Danach brach in den wenigen Städten dieses altorientalisch geprägten Südens der Widerstand aus, nicht zuletzt getragen von buddhistischen Mönchen. Quasi herrschte ein permanenter Bürgerkrieg, bis die USA 1965 intervenierten und 1973 – der Rückhalt im eigenen Land war zusammengebrochen – abzogen. Zwei Jahre später kollabierte das südvietnamesische Regime. 330000 seiner Anhänger kamen in »Umerziehungslager«, von seiner Zwei-Millionen-Mann-Armee war eine Million gefallen. Und: Die antiamerikanischen Widerstandstandskämpfer in den Höhlensystemen – eines habe ich gesehen – brachten nicht nur einen unsagbar hohen Blutzoll. Nach dem Krieg mußten viele in die Psychiatrie.
Über diesem Land liegt auch mehr als dreißig Jahre danach eine vorläufig nicht zu bewältigende Trauer; mit den regierungsoffiziellen Parolen scheinen die Probleme zumindest für den Moment stillgelegt.
Wir sitzen unter einem Zeltdach – einer der letzten Monsunregen dieser Saison tobt –, und die Piaf singt, über Lautsprecher, sie scheint gegen den Naturlärm wie um ihr Leben zu singen: Non, je ne regrette rien. Man glaubt, der Spatz von Paris schreie die Kraft dieses zerschundenen Landes aus sich heraus. Wir wissen zwar nichts; aber wir beginnen zu fühlen.
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