von Lisa Buhl, Buenos Aires
Irgendwo in einem Café in Buenos Aires höre ich zwei Stimmen, die zögerlich ihre Geschichten erzählen. Hinter den wachsamen, klugen Augen lauert die Wut. Wie ein Hund, der angekettet auf den Tag wartet, an dem er loslaufen und zubeißen darf.
Der eine Erzähler wird seit Monaten nicht bezahlt. Mit leeren Versprechungen abgespeist. Mit der Herablassung des adretten Herren: Was willst du mir? Du gehörst zu denen, die nichts wollen dürfen. In diesem Spiel hab ich die Macht, und du hast die Schuhe, die laufen und laufen und sich abnutzen und die nicht gewechselt werden. Sei froh, daß du noch Schuhe hast.
Und da ist eine Frau, die Krebs hat. Und ihre Tochter, die um Medikamente läuft. Und deren Tochter, die fragt: Wann kommst du nach Hause, Mama? Und die vor dem Schlafengehen ihr Stoffschwein unter den Kopf legt (vielleicht bringt es Glück) und gedämpft fragt: Wird Oma wieder gesund? Die Antworten sind irgendwann alle zu der einen geworden: Ich weiß nicht, mein Schatz. Mach die Augen zu. Träum etwas Schönes. Die Mutter, die um die kindlichen Alpträume weiß, die noch schlimmer sind als die eigenen.
Die bei einem Kaffee über ihre eigene Leichtgläubigkeit lacht: Ihre Mutter hat ein Leben lang in die Sozialversichertenkasse eingezahlt. Genau wie ihr Mann. Die Kasse müßte ihre jede Behandlung bezahlen. Das wird sie auch. Spätestens, wenn die Mutter nicht klein beigibt. Spätestens, wenn sie mit dem Anwalt droht. Aber die Logik des Staatsapparates ist nicht logisch und die Gerechtigkeit nicht gerecht.
Wenn der Krebs vom Blut auf die Leber schlägt, stirbt sie. Sie weiß darum, und die Angst frißt sie auf, vor allem nachts. Mit dem Gefühl, den Tod schon auf der Bettkante sitzen zu sehen.
Er ist wahr, dieser Merksatz der Bürokratie des Gesundheitssystems: Desto länger wir warten, desto weniger Kosten entstehen. Die Leute sterben an Bürokratie. Auf dem Weg zum Arzt. Im Wartezimmer. Im ewigen Warten auf Medikamente. Auf eine Diagnose. Auf eine Entscheidung von oben. Eine Operation. Die Beispiele auf der langen Todesliste des Wartens sind zahllos. Ungehört. Niemand führt Liste. Wozu auch? Es heißt am Ende: Gestorben an Krebs, gestorben an Lungenentzündung. An Bürokratie, an eiskalter Berechnung ist noch keiner gestorben. Heißt es.
Wie wütend das macht. Diese Hilflosigkeit. Die Verzweiflung. Der Hohn, wenn eine Stimme am Telefon sagt, das Medikament ist da, aber Sie können es erst bekommen, wenn die Kasse zahlt. Was sie muß. Was sie nicht tut. Es kann geklagt werden. Dann wird erwirkt werden, was rechtens ist. Aber ein Prozeß dauert. Die Bürokratie. Und dann ist es zu spät.
60000 Dollar. So viel kann niemand auslegen. So viel ist ein einzelnes Leben nicht wert. Es genügt ein viel geringer Kostenaufwand, um Menschen sterben zu lassen. Wieviel ein einzelnes Leben denn dann wert ist? Das kommt auf die Spielkarte an, die jede und jeder am Eingang dieses Lebens bekommt. Meistens: gar nichts. Sie sagt, sie wußte immer, daß das Gesundheitsystem schlecht funktioniere. Aber wirklich wissen kannst du so etwas immer erst, wenn es dich betrifft.
Ich höre sie beide murmeln:
Wenn ich diesen adretten Herrn erwische, der mich seit Monaten nicht bezahlt, der mich schlechter behandelt als seinen Hund, bringe ich ihn um.
Wenn ich einen von denen erwische, die still und heimlich über Leben und Tod entscheiden, mit Unterschriften auf Papier … Die sich aus den verweigerten Leben anderer Menschen Anwesen im Grünen bauen, Häuser mit mehreren Stockwerken und hohen Dächern. Die Kassen sind leer, erklären diese Herren, um über die Schultern zu rufen, hey, Schatz, sag dem Mädchen, es soll die Bademäntel bereitlegen und den Pool anheizen.
Und ich frage mich, wäre es gerecht, diesen Mann umzubringen? Wäre es gerecht, ihn nicht umzubringen? Ich weiß keine Antwort darauf. Vielleicht nur, daß Mord niemals gerecht ist. Vielleicht nur, daß die Gerechtigkeit nicht gerecht ist. Und daß es auch wie immer nicht so einfach ist. Da es sich nicht nur um diesen einen Herren handelt. Da die Schuld durch unzählige Hände rinnt. Große Herrenhände und schmalere Damenhände. Mit und ohne Ehering.
Aber die Wut verstehe ich. Die Entschiedenheit, diese Wut nicht mehr länger mit sich herumtragen zu wollen. Einmal handeln können. Etwas tun, was einen Effekt hat. Und dann sollen sie doch machen mit uns, was sie wollen. Ein letzter Akt der Verzweiflung. Ausbruch aus der ewigen Lähmung.
Dann glätten sich ihre Stirnen wieder. Die Augen gewinnen die alte Sanfmut zurück. Ich sitze zwei Menschen gegenüber, die niemals jemanden ernsthaft verletzen könnten. Die nur versuchen, bei all dem ihre Würde zu bewahren. Ihre Menschlichkeit. Es gibt keine Worte dafür. Wieder einmal.
Was ich empfinde für sie, kleide ich in ein Lächeln. Die gleiche Hilflosigkeit überkommt mich. Es gibt nichts, was ich sonst tun könnte. Sie ansehen und hoffen, daß sie verstanden haben, was keines meines Worte sagen kann. Für bestimmte Arten menschlicher Grausamkeit gibt es keine Ausdrucksform.
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