von Holger Politt, z. Z. Tallinn
Um es eingangs auf eine faßliche Formel zu bringen, könnte gesagt werden, das kleine Estland trägt derzeit schwer an der jüngeren Geschichte. Es zählt zu den wenigen Ländern, in denen in der offiziellen Sicht der vor nun bald fünf Jahren erfolgte Beitritt zur Europäischen Union eher als ein Ereignis wahrgenommen wird, mit dem Geschichte korrigiert werde. Das Kapitel russisch-sowjetischer Herrschaft über Estland sei endgültig zugeschlagen und die Gefahr einer Wiederholung gebannt worden. Das ist eine besondere Herausforderung für das Verhältnis zwischen den beiden großen Bevölkerungsgruppen des Landes, den Esten und den Russen. Dieses war auch bereits im Jahre 2004 nicht besonders gut, doch überwogen die Hoffnungen, der Eintritt in die EU-Strukturen möge die Übernahme erprobter und erfolgreicher Verfahrensweisen erleichtern. Doch seitdem wurde von unterschiedlicher Seite häufig Öl ins Feuer gegossen, was die Lage immer verfahrener werden ließ. Die unterschiedlichen Sichtweisen auf den jüngsten Kaukasus-Konflikt zwischen Rußland und Georgien gießen im übrigen weiteres hinzu.
Im Staatlichen Kunstmuseum zu Tallinn, einem exzellenten Beispiel zeitgenössischer Museumsarchitektur, stößt der Besucher auf Spuren offizieller Lesart: Estland durchlebte im 20. Jahrhundert zwei sowjetische Okkupationen, die erste 1940, als im Vollzuge des Hitler-Stalin-Paktes die Unabhängigkeit der ersten Republik ohne Skrupel zunichte gemacht und das Land annektiert wurde, und die zweite 1944/45, als die Rote Armee auf ihrem Weg nach Berlin die deutschen Truppen aus dem Baltikum vertrieb. Die Periode bis 1991 wird in der Dauerausstellung als »sowjetische Zeit« bezeichnet, doch bleibt offen, ob nach Lesart des Hauses damit nun glattweg Okkupation gemeint sein solle. Und die Lesart des Hauses dürfte zur offiziellen Position im Lande nicht groß in Widerspruch stehen. Folglich wäre es einigen einflußreicheren Damen und Herren schon lieb, der Betrachter richtete die vorgestellte Kunst der Zeit nach diesem Raster unentwegter Okkupation aus. Das Ankommen im Jahre 1991, dem Unabhängigkeitsjahr, ist insgeheim auf diese Weise unterstellt – als Erlösung. Ein Trost, daß die Bilder widersprechen, dokumentieren sie doch eher, daß die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg für die übergroße Mehrheit der Menschen im Lande keine verlorenen Jahre gewesen sein konnten. Kritik am sowjetischen Sozialismus und Ablehnung desselben schließt diese Tatsache nicht aus.
Wie sonst ließe sich das Unabhängigkeitsreferendum erklären, welches Anfang 1991 nach Zahl der Teilnehmer und der gültigen Ja-Stimmen eine Zustimmungsquote erreichte, die entlang der Sprachlinie nicht zu erklären war. Ein Großteil der russischsprachigen Menschen stimmte damals für die Unabhängigkeit. Ein Faustpfand, das mittlerweile verspielt ist. In dem Maße, wie dem verfassungsmäßig gebotenen Schutz des Estentums der Mantel der jüngeren Geschichte umgehängt wurde, verkamen die russischsprachigen Mitbürger entgegen allen offiziellen Verlautbarungen in den Augen der Verfassungshüter zu potentiellen Helfershelfern und Nachkommen der Okkupanten, wenn sie nicht sogar selber welche gewesen waren. Die Regierenden suchten und fanden im eigenen Land schließlich Schuldige der Geschichte. Ein fataler Irrtum, wie die Entscheidung, den in Bronze gegossenen Rotarmisten aus dem belebten Zentrum Tallinns zu entfernen, nur zu gut gezeigt hatte.
Ein guter Freund, in seiner leicht selbstironisch-distanzierten Wesensart ein Este, wie er im Buche steht, im Grunde seines Herzens immer noch ein bißchen Sowjetbürger und mit einem untrüglichen Blick für die Herausforderungen und die Möglichkeiten der europäischen Integration, vergleicht die Rolle der Roten Armee 1944 mit einem Arzneimittel, mit bitterer Medizin also, die nicht schmecken will, sondern zu begrenztem Zweck und in Not helfen soll. Manch unliebsame Nebenwirkungen müßten wie bekannt einkalkuliert werden. Ginge es nach ihm, stünde der Rotarmist noch an alter Stelle.
Von seiten vieler russischsprachiger Menschen wird nach dieser Entwicklung eine andere Rechnung bevorzugt, die nun, nach dem jüngsten Kaukasuskonflikt zwischen Rußland und Georgien entschiedener aufgemacht wird: Der Konflikt um Georgien habe nach 1991 mit der nationalistischen Losung »Georgien den Georgiern« begonnen. Die Uneinsichtigkeit der georgischen Seite habe den Einsatz russischer militärischer Mittel nötig gemacht, durch den die Welt am Rande des zweiten »geopolitischen kalten Krieges« stehe. In diesem neuen kalten Krieg aber werde Rußland das Recht nicht mehr aus der Hand geben, die Interessen und die Würde seiner Staatsbürger zu schützen, ganz gleich, in welchem Land sie lebten.
Keine Frage, daß die Herangehensweise der estnischen Regierungen an die Frage des gesellschaftlichen Miteinanders der beiden großen Bevölkerungsgruppen nach solchem Verständnis nur als Umsetzung des Konzepts »Estland den Esten« gesehen wird. Die Tatsache, daß derzeit mehrere zehntausend Menschen in Estland bereits Staatsbürger Rußlands sind, dürfte die entstandene verfahrene Lage gut illustrieren.
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