von Jochen Mattern
Mit einer fünfteiligen Serie zum Thema: »Die Erfindung der Deutschen« eröffnete der Spiegel das Jahr 2007. Die »weit zurückreichende Geschichte der Deutschen neu in den Blick« zu nehmen, lautete das Ziel, das sich das Leitmedium der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit mit der Serie setzte. Die Beiträge spannten einen zeitlichen Bogen vom Reich der Karolinger bis in die Gegenwart. Warum es der Neuerzählung deutscher Geschichte bedürfe, erfährt der Leser aus dem Einleitungstext. Die »neue Rolle auf der Weltbühne«, die Deutschland zu spielen habe, verlange danach. Im Kern gehe es bei der Revision der bisherigen Geschichte um den Stellenwert der NS-Vergangenheit im Selbstverständnis der Deutschen. Vorbei sei die Zeit, in der »Hitler und Holocaust noch immer stärker als die Gegenwart schienen«, heißt es in der Einleitung und weiter: »Die zwölf Jahre von 1933 bis 1945 sind für die Entscheidungen der Gegenwart und die Entwicklungen von morgen nicht mehr ausschlaggebend.« (Der Spiegel 4/2007) Unbeschwert vom dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte könnten die Deutschen nunmehr den Blick in Vergangenheit und Zukunft richten. Unter dem Stichwort der »Normalität« faßte der Spiegel das neu gewonnene Selbstverständnis der Deutschen zusammen. Kein negatives Gedächtnis hindere die nunmehr wieder normale Nation an der Wahrnehmung weltpolitischer Aufgaben wie zum Beispiel der, Deutschland am Hindukusch zu verteidigen.
Während die NS-Vergangenheit, wenn es nach dem Spiegel geht, für die Berliner Republik ohne Belang ist, spielt sie für die Beurteilung der DDR-Geschichte eine um so größere Rolle. Die in der Öffentlichkeit gebräuchliche Rede von der »doppelten Diktaturerfahrung« mißt die DDR am Nationalsozialismus und setzt beide in aller Regel gleich. Das hat eine Verharmlosung des Nationalsozialismus und eine Dämonisierung der DDR zur Folge. In der Gedenkstättenpolitik manifestiert sich das in einem besonderen Maße. Deren Bedeutung für den Umgang mit der Geschichte wird wohl niemand in Abrede stellen.
Salomon Korn, der Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland und dessen Beauftragter für die Gedenkstätten, hat seine Kritik an der Gedenkstättenpolitik im Bild der Waage veranschaulicht. In einer Pressemitteilung des Zentralrats vom 21. Januar 2004 monierte er eine »Waagschalen-Mentalität«, der »die Zeit nach 1945 unter dem Stichwort ›doppelte Vergangenheit‹ ausgesetzt« sei – »mit den nationalsozialistischen Verbrechen in der einen und den kommunistischen Verbrechen in der anderen Waagschale«. Ausdrücklich wandte er sich gegen »die sich abzeichnende Analogisierung und Relativierung von NS-Verbrechen gegenüber denen des Stalinismus und der Staatssicherheit der DDR«. Gerichtet war die Kritik in erster Linie an die sächsische Landesregierung, deren Gedenkstättenkonzeption aber »auch bundespolitische Signalwirkung« habe. Der Zentralrat der Juden kündigte aus dem Grunde seine Mitarbeit in der Stiftung Sächsischer Gedenkstätten auf. Ein Schritt, dem sich die anderen NS-Opferverbände, die der Sinti und Roma, der Wehrmachtsdeserteure, der Verfolgten des Naziregimes und der jüdischen Gemeinde in Dresden, anschlossen.
Obwohl ein geschichtspolitischer Skandal, dauert der unhaltbare Zustand bis heute an – wenngleich der Versuch, die sächsische Gedenkstättenpolitik zum Vorbild für die Bundesrepublik insgesamt zu erklären, mißlungen ist. Das von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion geforderte Konzept zur »Förderung von Gedenkstätten zur Diktaturgeschichte in Deutschland« wurde nach heftiger Kritik zurückgezogen.
Aus dem Hause des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Bernd Neumann, wurde inzwischen eine überarbeitete Konzeption vorgelegt. Auch sie stieß in der Bundestagsanhörung auf scharfe Ablehnung. Über deren Präambel, die erklärt, daß weder die nationalsozialistischen Verbrechen relativiert noch die DDR bagatellisiert werden dürfen, äußert Salomon Korn in einem Zeitungsinterview: »Hier werden Nationalsozialismus und SED-Diktatur gleichrangig behandelt. Von ›doppelter Diktatur‹ ist die Rede, von den ›beiden deutschen Diktaturen‹‚ den ›beiden totalitären Systemen‹… Wenn man nur will, lassen sich die Begriffe scharf voneinander abgrenzen. Die Tatsache, daß das nicht geschieht, scheint mir doch entlarvend: Man setzt das eine mit dem anderen gleich.« (Die Zeit, 15. November 2007)
Wenngleich die Gedenkstättenkonzeption des Bundes nach der Anhörung im Bundestag auch noch einmal überarbeitet worden ist, wirft der gesamte Vorgang doch ein erhellendes Licht auf das historische Bewußtsein hierzulande.
PS.: Ich habe Martin Bemmann für die aufmerksame Lektüre und die Aufforderung zur Klarstellung zu danken. Aus Platzgründen schien eine Konzentration auf den Akteursaspekt geboten. Zwei, die einen maßgeblichen Einfluß auf den öffentlichen Gebrauch von Geschichte ausüben, sind genannt: der Spiegel als ein bundesrepublikanisches Repräsentativorgan einerseits sowie konservative Kräfte aus dem Parteienspektrum andererseits. Auf letztere setze ich mit vollem Vertrauen, was meine Ankündigung von geschichtspolitischen Kampagnen im kommenden Jahr betrifft. Die Gelegenheit, daß Wahlen und das Jubiläum der friedlichen Revolution in der DDR zusammentreffen, ist günstig wie nur selten. Etwas Geduld ist freilich angebracht. Einstweilen gibt Hessen einen Vorgeschmack auf das Kommende.
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