Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 1. September 2008, Heft 18

Paraphrase über das Verbot eines Bleistifts

von Angelika Leitzke

Sebastiano war ein großer Mann. Wahrhaftig. Ein Feuerwerk an Farben, eine grandiose Beherrschung ihrer Zusammenstellung, ob nun venezianisch, römisch, raffaelesk oder eine Mischung aus allem.
Sebastiano muß zu Lebzeiten ein großes Privileg genossen haben: nicht nur, daß er Michelangelos Spezi war. Frei durfte er seinen Pinsel benutzen, später sogar unter päpstlicher Aufsicht. Dem Besitzer des einfachen Bleistifts ist der freie Gebrauch desselbigen verwehrt.
Sebastianos Größe zu erleben, bedarf es nicht nur einer gültigen Eintrittskarte, es bedarf auch einer amtlichen Sondergenehmigung von höchster preußisch-musealer Stelle, um Notizen zu des Meisters göttlichen Bildern machen zu können, derzeit von der Gemäldegalerie am Kulturforum zum optischen Genuß dargeboten. Ich spreche nicht von simplen Buntstiften, wie Kinder sie bei den Spiel- und Spaßnachmittagen in öffentlichen Museen verwenden, um sich an Picasso, Otto Dix oder wem auch immer zu üben. Auch nicht von den billigen Pinseln, mit denen Dilettanten und Kopisten die hohe Kunst nachäffen wollen. Ich rede vom einfachen Bleistift des wissensdurstigen Besuchers, der, da er nicht im Besitz des Einsteinschen Gehirns ist, zum Merkzettel greifen muß. Von Zeit zu Zeit, von Bild zu Bild will er sich Besonderheiten, Daten und Fakten aufschreiben, denn den handlichen Katalog von nur knapp vierhundert Seiten in die Ausstellung hineinzuschleppen, ist gleichermaßen verboten – kein schweres Handgepäck dort, wo kostbares Kulturgut versehentlich oder absichtlich vernichtet werden könnte.
»Sie dürfen Block und Stift mit hineinnehmen, aber Sie dürfen nichts aufschreiben«, flüsterte mir die Aufseherin zu, als sie mein Schreibwerkzeug bemerkte, das ich neben der Eintrittskarte an ihr vorbeischmuggeln wollte. Meinen Hinweis, ich sei Journalist und von berufs wegen hier, ignorierte sie trotz gültigem Presseausweis mit der Wiederholung ihrer Aufforderung.
»Aber das ist doch absurd«, zischte ich ihr mit verhaltener Stimme zu. »Anweisung von oben«, lautete ihre nüchterne Erwiderung. Um kein weiteres Aufsehen zu erregen, betrat ich das Dunkelkabinett – mit Block und Bleistift. Verfolgt von den Blicken neugieriger Besucher.
Mein Blick wanderte von Bild zu Bild. In meinen Fingern zuckte es, zum Stift zu greifen und zu notieren: Naturauffassung noch wie bei Giorgione. Brilliant gemalt Stoffe. Wer ist der unbekannte Kardinal denn nun wirklich? Nach gut zehn Minuten war mein Kopf randvoll, und ich eilte dem beleuchteten Schild exit zu, um ihn draußen auf dem Block schriftlich zu entleeren. Als die Informationen auf dem Papier standen, betrat ich die Ausstellungshalle aufs neue in der vagen Hoffnung, ich könnte unbemerkt hineinschlüpfen.
»Sie dürfen Block und Stift mit hineinnehmen, aber nichts aufschreiben«, flüsterte mir der grau Uniformierte zu, der die Karte abreißen wollte und mein Schreibwerkzeug erblickte. Das Personal am Eingang hatte gewechselt. Ich vermied weitere Diskussionen und ging wort- und grußlos hinein. Dieses Mal hatte ich das dumpfe Gefühl, nicht nur von den Blicken der Besucher, sondern auch von denen der Aufseher verfolgt zu werden. »Will was aufschreiben, bitte im Auge behalten«, hörte ich leise Stimmen hinter meinem Rücken raunen. Ich versuchte, so unsichtbar wie möglich auszusehen, und schlich bedrückt von Bild zu Bild. Doch unweigerlich stieg die Lust in mir empor … die wilde Lust, nicht nur nichts aufzuschreiben, sondern den Stift, meinen dreimal verflixten Stift, gegen Sebastianos göttliche Hand selbst zu richten: Wie wär’s mit ein paar zusätzlichen Strichen auf dem Blatt des gezeichneten Gottvaters? Oder mit einem Schnurrbart für den schnurrbartlosen Papst, wie hieß er doch gleich nochmal, gottverdammt, wo ist mein Stift? Als ich zu nahe an die blaugewandete Maria der »Pietà« (war es nun die aus Viterbo oder die aus Urbino?) herantrat, zirpte die Stimme eines Koreaners neben mir: »Sie dürfen hier nichts notieren.« Er trug eine graue Uniform. Was für ein ausländerfreundliches Personalmanagement! Nur Bleistifte und Blöcke waren nicht erlaubt. Weiß der Mann überhaupt, wie man Sebastiano schreibt? S-E-B-A-S-T-I-A-N-O! Vielleicht können die hier auch gar nicht lesen und schreiben, durchfuhr es mich. Weswegen sie den Anblick von Alphabeten nicht ertragen können.
»Ich weiß«, lispelte ich vorsichtig zurück. Schon hörte ich den Herrn neben mir, wahrscheinlich ein Zeitgenosse Sebastianos, irgendetwas murmeln, das so klang wie: »Ist ja unerhört. Nimmt ja keine Rücksicht auf die Kunst!« Ich stolperte weiter zum nächsten Bild, das ich kaum mehr wahrnahm – war es nun eine Auferstehung oder eine Grablegung des Herrn Jesu Christi? –, denn in meinem Gehirn reifte ein teuflischer Plan, wie man in einen simplen Bleistift eine kleine Sprengbombe einbauen könnte, die nicht nur Sebastianos göttliche Werke auslöschen, sondern auch Haus und Hof bis auf die Grundmauern niederreißen würde – samt analphabetischem Management.
Der Stift entglitt mir und fiel zu Boden. Ich bückte mich eilens, um ihn aufzuheben, bevor eine der grauen Eminenzen mir hätte zuvorkommen können. »Sie dürfen hier nichts aufschreiben«, sagte der Aufseher zu mir, mit dem ich beim Aufrichten zusammenprallte. Ich entwand mich seinem Zugriff, stürzte durch das Dämmerlicht zum Ausgang. Wo waren Block und Bleistift? Ich hatte sie bei meiner Flucht verloren. Ich sank auf einen der Ledersessel, die dazu gedacht waren, endlose Notizen zu Sebastiano oder über Gott und die Welt zu machen. Aber ich hatte nichts zum Schreiben bei mir. Mir fehlten die Worte. Bitte bringen Sie zur Besichtigung keine Blöcke und Bleistifte mit. Es lohnt sich nicht.