Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 15. September 2008, Heft 19

Berliner Spätsommer

von Angelika Leitzke

Und hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, sehen Sie das »Berliner Sommerschaufenster«. Zeit: Entleerung der City von urlaubswütigen Metropolisten und Touristen, die den Weg nicht finden in das Herz dieser Stadt.
Von links vorne schlurft der Glöckner von Nôtre Dame de Charlottenburg, buckelig, alt und viel zu früh auf das Abstellgleis geraten, über die Straße ins Bild, mit alten Plastiktüten beladen. Taub und blind sieht ihn kaum jemand mehr, der grau wurde im Laufe der Bettlerjahre. Es ist schon spät. Nebenan thront die fettleibige buntscheckige Kuh, die nach stundenlangem Bürositting um ihre Linie kämpft, auf zwei Bistrostühlen. Fast eine lila Milka-Kuh. Rot strahlt ihr falsches Haar im letzten Licht eines verdämmernden Augusttages. Auf wackligem Tisch türmen sich vor ihr unzählige Zigarettenkippen, ihr Menu à la carte räumt soeben eine Vollbusige im schrägen Mini ab.
Da tritt die Hündi-Tante auf hohen Kothurnen, japanesk im Globalstil der Zeit, auf den Plan, ihren Zwergpinscher am Straßband führend. Bussi bussi, gassi gassi. Ein kurzes Wortgeplänkel mit Milka-Kuh verbindet auf ungeahnte Weise. Alles wird gut. Schützend hält der distinguierte Herr, vis à vis seinen Eiskaffee schlürfend, die weiße Hand über seines Yorkshire Terriers strammes Hinterteil. Hund hat sich unter Herrchens Schoß verkrochen, wo er kleine Rinnsale unauffällig läßt. Vorbei schwingt lässig in Kurzshorts made Benetton & Co und mit braungebrannter Stirn unter Silbermähne der Senior – was kostet heute die Welt? – und Inhaber eines beträchtlichen Immobilienvermögens, was er neben sich dezent zur Abendschau trägt. Und schmuck schreitet ein Jüngling von rechts heran, die echtlederne Aktentasche geklemmt unterm Arm, die lackschwarzen Haare trendig glatt an die Schläfen geklebt. Bei seiner Liebsten ums Eck wird er noch einen Besuch abstatten, vielleicht ist sie auch bloß seine Kosmetikerin.
Sehen Sie genau hin, wir hätten da noch den älteren Herrn schwitzend im Jackett, rot bekrawattet, der den Autoschlüssel sucht in aufgeblähten leeren Taschen. Straff spannt sich sein weißes Konfektionshemd über den einst jugendlich schlanken und ranken Leib, als er sich niederläßt an einem der Tische. Gab ihm doch Muttern zuviel Klöße mit auf den Weg in die große weite Welt? Hier nippt die Intellektuelle vom Dienst bei einem edlen Tropfen noch vom letzten Bilderkatalog, blättert Journale durch. Schwarzbetuffte Seidenschleife im platinblonden Haar. Die Brille – gleich ist sie über die Nasenspitze hinweg gestrandet! Ein paar Schritt weit vor ihr startet ein Range Rover mit lautem Geheul zur letzten Fahrt, Handys werden gezückt. Scheinwerfer blitzen auf. Streng schwängert sich die Straßenluft mit benzinlichen Oxiden. Vater und Mutter und zwei Söhne riechen, über Pommes frites gebeugt, nichts von alledem. Iß auf, sagt Papa zum Junior zwo. Im Supermarkt hinten im Bild räumen müde Verkäufer die Standware weg. Ein Blumentopf fällt herunter und bricht entzwei. Kulissenabbau. Hinter leichten Gardinen ertönt launiges Gelächter. Mitternacht ist nicht mehr weit. Nur irgendwo sitzt einer hoch oben im Balkon, ein Stückchen Himmelblau über sich. Sein rotes Hemd bläht zärtlich der nächtliche Wind.
Vielleicht wird es morgen doch regnen?