Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 29. September 2008, Heft 20

Anderswo

von Martin Franke

Daß es anderswo zumeist nicht besser oder schlechter ist als zu Hause, sondern nur anders, lernt mancher, der sein heißgeliebtes Urlaubsland zur neuen Heimat macht, auf die harte Tour und manch anderer, flüchtiger Besucher nie. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Zum Beispiel Frankreich. (»Ah, la Frongße!« Hier schnalzt der Konnäsöhr mit der Zunge. »Lässäh wiefre! Sawahr fähr!«) Der eine sieht die Unterschiede und beginnt zu schwärmen, zum Beispiel über die Lockerheit des Südens, der andere (oder manchmal auch: der gleiche) bemängelt den Schlendrian. Dann steht er dann da, der »Mann aus Allemania« (Reinhard Mey) und sondert ungebeten Verbesserungsvorschläge ab, denn am deutschen Wesen …
Auch ich fiel auf die Mischung aus Urlaubsstimmung, Küche und netten Gastgebern herein, dachte, ich hätte mit meinem bißchen Schulfranzösisch alles verstanden und schwärmte. Naja, ich war siebzehn. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, ich bin immer wieder gerne da, auch wenn es immer weniger anders ist. Sechs Jahre nach meinem ersten Aufenthalt überfiel mich eine Erkenntnis, im Pariser Hauptpostamt. Das war die Zeit, als das Geld noch nicht wie Strom und Wasser aus der Wand kam und am Ur-Händi noch gebastelt wurde. Ein Sonntag, alle Welt stand Schlange. Mit steigender Wartezeit immer weniger geduldig, bis dem hinter mir stehenden Mann der Kragen platzte: »Na, der da hinterm Schalter, der hat das Arbeiten auch nicht erfunden!«
»Gut, daß sie das sagen«, sagte der nächste in der Reihe, ein typischer Mr Dupont, inclusive Baskenmütze, aber ohne Baguette. »Hätte ich das gesagt, wäre mir das als rassistisch ausgelegt worden.« (Der Postler und der Mann hinter mir waren afrikanischer Abstammung.) Eine Frau mit Kinderwagen, etwas weiter hinten, meinte: »Das kommt alles nur von unserer verdammten Bürokratie.« »Genau«, bestätigte Dupont. »Sowas von Bürokratie wie bei uns, das gibt es überhaupt nirgendwo sonst! Kein Wunder, wir haben sie ja auch erfunden …« »Also wir«, sagte einer der beiden jungen Maghrebiner zwischen Dupont und der Frau, »wir waren gerade für drei Monate in Deutschland arbeiten. Da kennen die so etwas gar nicht. Du gehst hin, meldest dich an, und fängst an zu arbeiten. Und alles korrekt, keine Überraschungen. Viel einfacher als hier.« Das durfte ich als guter Deutscher nicht durchgehen lassen. Unsere Bürokratie so zu schmähen! Also gab ich Widerworte. Fast schade, daß wir nach einer halben Stunde die Diskussion abbrechen mußten, als wir unser Geld hatten. Aber da war noch soviel Hauptstadt, die angeschaut werden wollte.
Aber Bürokratie ist ja auch immer, was der Regent hinterm Schalter daraus macht. So etwa wie der Angestellte der Krankenversicherung, der, im offensichtlichen Einverständnis mit seinen Kollegen, einem afrofranzösischen Bekannten unseres Gastgebers seine Papiere nicht ausfertigte, so daß der nicht zum Arzt konnte. Was tat unser Gastgeber? Er lieh sich von seinem Bruder einen Anzug (er besaß selbst keinen), ging zur Versicherung, gab sich dort als Inspektor aus Paris aus, der verschiedene Beschwerden nachgehen müsse, zum Beispiel der des Afrofranzosen. Man präsentierte ihm die längst fertigen Papiere, die – ein bedauerliches Mißverständnis, nicht wahr? – einfach nicht zu ihrem Adressaten gefunden hatten, und – leider – irgendwie nie zu finden waren, wenn der vorsprach. Der »Herr Inspekteur« nahm sie an sich, stellte noch ein paar unbestimmt gehaltene Fragen, und verschwand.
Und dieses Jahr? Wieder Frankreich, in der Provence. Auf dem Rückweg von Marseille fährt uns einer auf unseren Leihwagen auf. Italienisches Kennzeichen. Arabische Insassen. Die Papiere von Hertz besagen: Polizei rufen, verraten aber die Nummer nicht. Keiner der hinter uns Haltenden weiß sie, weil: Wozu Polizei? Die ruft man hierzulande bei sowas nicht. Erst der fünfte oder sechste weiß die Nummer. Glaubt er. Anruf. Erste Frage: Wo sind sie? Ja, wo zum Teufel? Irgendwo hinter Cavaillon. Genauer?
Ein Fahrzeug mit Kennzeichen aus der hiesigen Gegnd anhalten. Der Beifahrer kurbelt die Scheibe runter, ich bitte ihn, der Polizei den Ort zu beschreiben. Er kann mich nicht verstehen, sagt er. Auf flämisch. Der Fahrer ist Maghrebiner, er kann, er beschreibt, ich danke. Keine fünf Minuten später ist die Police Nationale da. Klärt mich auf: Ich hätte bei der Feuerwehr angerufen. (Deshalb die ständige Frage nach etwaigen Verletzten, ging mir auf.) Ich antworte ihm, daß niemand mir die Polizei-Rufnummer geben konnte. Er wundert sich nicht.. Der Unfallmeldebogen (Modell der EU) wird von den Polizisten auf meine Bitte hin ausgefüllt, keine Verwarnung für den Unfallverursacher, weder gebührenpflichtig noch sonst irgendwie, nur freundliche Assistenz. Wir haben keinen Beleg, daß wir die Polizei gerufen haben, eine Tagebuchnummer oder dergleichen gibt es nicht.
Später dann bei der 24-Stunden Hertz-Hotline anrufen. Ansage vom Band, weil Sonntag. Zweiter Versuch montags: Wir möchten einen Unfall melden. Fährt das Auto noch? Ja. Machen sie das doch dann einfach bei der Rückgabe. Aber hier steht: spätestens fünf Tage, und das wären sieben. Macht nichts. Wo geben sie es ab? Flughafen Lyon. Gut. Da ist 24-Stunden-Service. Kein Problem. Am Flughafen in Lyon besteht der 24-Stunden Service aus einer Schublade, in die man die Schlüssel werfen kann. Das war zu einfach. So geht das nicht, denkt man als gelernter Deutscher. Da kommt noch was nach. Ob da was nachkommt? Bis jetzt: Fehlanzeige.
Besser? Vielleicht, vielleicht nicht. Jedenfalls anders.