von Günther Drommer
Erwin Strittmatter hat im Museum des Lagers Buchenwald bei Weimar vor der dort im Original ausgestellten heimtückischen Genickschußanlage der SS gestanden, mit der entgegen dem Völkerrecht zahllose sowjetische Kriegsgefangene hinterrücks erschossen wurden. Gleich ihm ganze Generationen von Schülerinnen und Schülern aus der DDR vor ihrer Facharbeiterprüfung oder ihrem Abitur, stumm für einen kurzen Moment. Geschrieben hat Strittmatter darüber nicht. Wohl aber ist sein langer, starrköpfiger Streit mit dem Politbüro des ZK der SED über eine der zahllosen von der Parteiführung beanstandeten Stellen im Manuskript des Wundertäter III in einer ersten Strittmatter-Biographie (Des Lebens Spiel, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2000, 245 Seiten) festgehalten, in der es um die Vergewaltigung einer deutschen jungen Frau durch einen Rotarmisten geht. Die Stelle ist im Buch geblieben, man kann sie jederzeit nachlesen.
Ich habe nicht die Absicht, mich auf ein »gereiztes« Hin und Her mit Werner Liersch einzulassen. Und die Liersch nachvollziehenden Ansichten Karl Corinos lese ich in der Frankfurter Rundschau vom 4. August, wissend, daß Corino dazumal und bis heute im Zusammenhang mit Stephan Hermlin dessen autobiographische Elemente enthaltenden Roman Abendlicht, der sich weder als Autobiographie bezeichnet noch eine ist, von einer solchen nicht unterscheiden kann oder will.
Ein paar abschließende Bemerkungen zu Werner Lierschs »neuen Enthüllungen«, ehe die »neuesten« folgen werden. Das letzte Wort überlasse ich ihm, er wird es sich, entsprechend seines wohlüberlegten Zeitplans, sowieso nehmen. Mir fällt zunächst auf, daß Lierschs entscheidender Satz in seinem erwarteten nachgelegten Artikel vom 3. August in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung von ähnlich schwacher Aussagekraft ist wie es schon der Kernsatz in seinem ersten Artikel war: »Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß Strittmatter zu den Zeugen gehörte.« Corino spekuliert in der Frankfurter Rundschau einen beträchtlichen Schritt weiter: Die Suppe muß am Köcheln bleiben. Diesmal geht es um das schreckliche Ende eines Todesmarsches in der Nähe des idyllischen Ortes Oberplan an der Moldau in Böhmen, als Dokument veröffentlicht von einer tschechischen Historikerin im Jahre 2006.
Auf dem Territorium der fünf neuen Bundesländer gibt es nicht nur in ziemlich jedem Dorf, unter jeder Dorflinde ein in Nachwendezeiten mit Goldbronze aufpoliertes Kriegerdenkmal, das ungebrochen »unserer in beiden Weltkriegen gefallenen Helden« gedenkt. Daneben finden sich immer wieder Gedenksteine mit dem Roten Winkel für die Opfer der zahlreichen Todesmärsche aus den Nazi-Konzentrationslagern, allerdings zu DDR-Zeiten aufgestellt und bis heute blumengeschmückt. Wir erfuhren schon in der Schule in allen uns Kindern zumutbaren Einzelheiten, was darunter zu verstehen ist, und ich habe in meinem langen Lektorenleben mehrere Bücher zu betreuen die Ehre gehabt, in denen solche Todesmärsche geschildert wurden.
Mit gutem Gespür für die späteren politischen Verhältnisse im Deutschland des Kalten Krieges wußten sich die SS-Bewacher dieser Elendszüge im letzten Moment jedesmal in Richtung Westen abzusetzen. So hatten die Westzonen und die aus ihnen hervorgehende Bundesrepublik Deutschland einerseits die unverhältnismäßig größere Last an deutschen Kriegsverbrechern aus allen militärischen Einheiten in der Nazizeit zu tragen. Andererseits war bis hinein in die sechziger Jahre unangemessen wenig von der Beschäftigung mit dieser Last zu bemerken. Hans Globke, Hans Filbinger, und Otto Wolff von Amerongen, um drei von Hunderten zu nennen, haben sie gewiß nicht mitgetragen, und sogar die heute hochgeehrten Verschwörer des 20. Juli 1944 wurden lange Jahre öffentlich und erst recht hinter den Türen der militärischen Traditionsverbände als Vaterlandsverräter beschimpft. Oder denken wir an die kaltschnäuzige Behandlung von Wehrmachts-Deserteuren aus Gewissensgründen. Sie gehörten neben den tapferen Frauen und Männern des Widerstands im Untergrund zu den wenigen, die etwas taten gegen diese barbarische Zeit.
Als mir Eva Strittmatter 1999 von einer im Konzept vorhandenen Grüne-Juni-Geschichte berichtete, in der Strittmatter zu erzählen sich vorgenommen hatte, wie belgische Kriegsgefangene ihn und andere deutsche Männer in eine selbstausgehobene Grube treiben, um sie zu erschießen, und amerikanische Truppen im letzten Moment ihr Leben retten, gab es nichts zu diesem Vorgang als Strittmatters Aufzeichnungen selbst. Der Dichter konnte nicht mehr befragt werden. Auch heute ist über diesen Vorgang nicht mehr zu berichten. Wenn Liersch und Corino, die beiden selbsternannten Personalchefs für lebende und tote Literaten aus dem Osten, schreiben, ihnen seien weder amerikanische noch tschechische oder deutsche Dokumente dazu bekannt, heißt das noch lange nicht, daß es sie nicht gibt oder gegeben hat und wenn, daß dort die Wahrheit festgeschrieben ist. Wir sind eben gerade nicht auf dem Territorium einer schöngeschriebenen Biographie, sondern wir beurteilen vor allem einen späteren großen deutschen Dichter und die antifaschistische Wahrhaftigkeit seines literarischen Werkes – und nicht den Persilschein eines in der Wolle gewaschenen Nazirichters oder Nazijournalisten aus den frühen Jahren der alten Bundesrepublik.
Was wäre eigentlich, wenn Strittmatter tatsächlich an jener Grube in Wallern gestanden hätte, gleich seinen Weimarer Landsleuten bei ihrem von den Amerikanern erzwungenen Gang durch das gerade eben befreite KZ Buchenwald? Und Strittmatter sich in seiner Grüne-Juni-Geschichte statt jener unschuldigen toten jüdischen Frauen selbst in dieser Grube gesehen hätte, mitschuldig am Krieg, für den unser ganzes Volk die Verantwortung trägt? Zu Recht in dieser Grube und doch auch nicht? Jedenfalls mit dem Leben davongekommen? Natürlich wäre es in dieser Geschichte um persönliche Schuld gegangen, wie in vielen anderen Strittmatter-Geschichten und nicht um persönliche Reinwaschung. Wovon lebt eigentlich große Literatur, die in unserem Deutschland der Gegenwart nicht mehr so häufig vorkommt?
Nur wenige haben für sich und andere über die verfluchte Nazizeit so konsequent nachgedacht, wie es zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller im ehemaligen Hüben und Drüben taten. Strittmatter an vorderer Stelle. Allerdings gab es im Westen durchaus auch allerhand Panzerbär-Autoren, die den Krieg öffentlich und ungehindert anders beurteilten und das noch heute tun. Werner Liersch ist weder dem einen Kreis von Autoren zuzurechnen noch dem anderen, das hat mit der schon erwähnten »Gnade seiner späten Geburt« zu tun. Der gelernte Werkzeugmacher studierte ab 1953 an der Ostberliner Humboldt-Universität Germanistik, hat er zuvor sein Abitur vielleicht an deren Arbeiter- und Bauernfakultät gemacht? Wie dem auch sei, damals war hierzulande tiefste Stalin-Zeit. Was hätte er zum Beispiel über sie zu berichten? Und über sich selbst in ihr? Woran war er beteiligt, was hat er miterlebt, was hat er gesehen, wovon hat er sich distanziert? Es wäre zu begrüßen, wenn der Schriftsteller Liersch selbst ein wenig »hinter den Kulissen« hervorkäme und seine moralische Urteilsstärke wie auf andere, so auch auf sich selbst anwendete.
Deutschland hat im 20.. Jahrhundert nur einen Krieg geführt, der begann nach langer innerer Vorbereitungszeit des ganzen wissenden Volkes im vorweggenommenen Siegestaumel des 1. August 1914 und endete am 8. Mai 1945 mit einer mehr als verdienten Niederlage des ganzen wissenden Volkes. Die Schuld war auf unserer deutschen Seite, ungeteilt und vom Anfang bis zum Ende. Es folgte eine erbitterte Nachbereitungszeit, aus der sich bis heute niemand einfach auf die Art heraushalten kann, daß er recht kräftig vor den Türen anderer kehrt.
Ich finde Werner Lierschs Urteil in seinem Artikel im Neuen Deutschland vom 2. August über einen von ihm sogenannten bösen Kotau Hans Falladas von 1938 wie seine überhebliche Beurteilung von Ernst Rowohlts Memorandum zu dessen Jahren während der Nazi-Zeit in ihrem richterhaften Ton unangemessen: »Er verschweigt nicht gerade das Fragwürdige, hebt aber das Oppositionelle über Gebühr (Hervorh. G. D.) hervor.«
Unerträglich finde ich die Art, in der er die Leserinnen und Leser der FAS, in ihrer Mehrzahl von denen des ND unterschieden, im jüngsten Strittmatter-Nachschlag mit der Biographie des ihnen unbekannten Schriftstellers Günter Ebert bekannt macht: Waffen-SS, Schüsse auf britische Soldaten, worüber Ebert schreibt. (Wie sind eigentlich die, gering veranschlagt, mehr als fünfundzwanzig Millionen nichtdeutsche Menschen an den Fronten des Zweiten Weltkriegs umgekommen?) Aber darum geht es dem Autor nicht, sondern: Ebert war Parteisekretär im Schriftstellerverband der DDR, inoffizieller Mitarbeiter des MfS, sein Buch erfuhr die Ablehnung durch fünf DDR-Verlage: »Als Genosse Schriftsteller war man nicht in der SS«, schlußfolgert Werner Liersch flott. Ebert hat wie jeder Mensch zu seiner Person mehr zu beanspruchen als sieben diffamierende, aus jedem Zusammenhang gerissene, unkommentiert nebeneinander gestellte Fakten. Im übrigen hat Ebert in Lierschs neuem Artikel mit Strittmatter so wenig zu tun wie Loest im ersten. Auch deshalb bleibe ich dabei: Als Ergänzung für meine Strittmatter-Biographie aus dem Jahre 2000 kämen nur beweisbare, auf neueren Erkenntnissen beruhende Fakten in Frage, gemessen an der Zeit und an der jeweiligen Lebenssituation des Menschen, um den es geht, denunziatorische Vermutungen hätten in ihr keinen Platz.
Der Krieg als Ganzes war von seinem ersten Moment an bis zu seinem Ende ein Verbrechen, alle konnten es wissen, wußten es aber nicht. Das ist unser deutsches moralisches Dilemma. Es bleibt die vage Hoffnung, die »Affäre Strittmatter« könnte am Ende ein wenig dazu beitragen, daß alle gemeinsam, das ganze ehemals geteilte deutsche Volk, zu einem neuen Nachdenken über dieses Dilemma kämen, statt hochmütig und bequem die Schuld bei anderen zu suchen.
Nichts aus jüngerer Vergangenheit liegt bei den Akten, und Verantwortung tragen wir alle. Dazu wäre es notwendig, kritisch und selbstkritisch, nicht jedoch selbstgefällig über Schuld und Unschuld, über Zwecke, Mißbräuche, zeitbedingte Dummheit und Klugheit, über Feigheit, Mut, Ursachen, Wirkungen, Absichten, Folgen zu sprechen. Sich als Moralapostel gerierende Jägersleute, bisher ohne ernsthafte Beweise, sollten etwas mehr nachdenkliche Zurückhaltung üben und wenigstens im Ansatz sowohl die Situation ihrer menschlichen Objekte in deren vergangenen Zeiten berücksichtigen als auch die Argumente anderer zur Kenntnis nehmen.. Sie sollten sich an einer wirklich notwendigen Diskussion beteiligen und nicht nach Gutdünken auswählen, worauf sie antworten wollen oder können und worüber sie einfach schweigen. Dazu gehörte es sich für Werner Liersch zum Beispiel, den Mut zu finden, das Gespräch mit seiner langjährigen Kollegin zu suchen, der großen deutschen Lyrikerin Eva Strittmatter, von der ich allerdings nicht weiß, ob sie ein solches Gespräch jetzt noch führen wollte oder überhaupt könnte.
Die moralische Beurteilung eines Menschen, wenn sich im nichtkriminellen Bereich jemand dazu berechtigt und ermächtigt fühlt, sollte am Schluß stehen und nicht am Anfang. Ich fürchte allerdings, das auf wieder andere Art angepaßte Verhalten der beiden Jagdgenossen Liersch und Corino und all ihrer journalistischen Kolporteure dient sehr genau den momentan allenthalben sichtbaren Zwecken. In diesem Fall betrifft das unbezweifelbar die Delegitimierung des Antifaschismus in der vergangenen DDR, was denn sonst?
Schlagwörter: Günther Drommer, Werner Liersch