von Uri Avnery, Tel-Aviv
Es war ein eher beiläufiges Gespräch; aber es hat sich meinem Gedächtnis eingeprägt, kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg. Ich war gerade aus dem Plenarsaal der Knesset herausgekommen, nachdem ich dort in einer Rede zur sofortigen Errichtung eines palästinensischen Staates aufgerufen hatte.
Ein anderes Knessetmitglied kam den Gang entlang. Er, ein freundlicher Mensch, gehörte der Arbeitspartei an und war früher Busfahrer. »Uri,« sagte er und nahm mich am Arm, »verdammt noch mal, was tust du? Du könntest große Karriere machen. Du sagst eine Menge guter Dinge, gegen Korruption, für die Trennung von Religion und Staat, über soziale Gerechtigkeit. Du könntest bei den nächsten Wahlen großen Erfolg haben. Aber du verdirbst alles mit deinen Reden über die Araber. Warum hörst du nicht mit diesem Unfug auf?« Ich sagte ihm, er habe recht, ich könne dies aber nicht tun. Ich sähe keinen Sinn, in der Knesset zu sein, ohne die Wahrheit aussprechen zu können, so wie ich sie sehe. Ich wurde auch in die nächste Knesset gewählt, aber wieder als Vorsitzender einer winzigen Fraktion, die nie in der Lage war, zu einer großen parlamentarischen Kraft zu werden. Die Prophezeiungen des Mannes haben sich bewahrheitet.
Im Laufe der Jahre habe ich mich oft gefragt, ob ich damals das Richtige getan habe. Wäre es nicht besser gewesen, für eine kurze Zeit Prinzipien aufzugeben, um politische Macht zu gewinnen, ohne die es unmöglich war, sie zu verwirklichen? Ich weiß nicht, ob meine Entscheidung richtig war. Aber ich hatte nie Gewissensbisse, weil es für mich die richtige Wahl gewesen war.
Ich erinnerte mich an dieses Gespräch, als ich von Barack Obama hörte. Er steht vor den gleichen Dilemmata. Natürlich gibt es einen mächtigen Unterschied: Ich stand an der Spitze einer kleinen Fraktion in einem sehr kleinen Land, er steht an der Spitze einer riesigen Partei in einem sehr großen Land … Nach Bismarck ist »Politik die Kunst des Möglichen« und verlange Kompromisse. Wenn dem so ist – wo ist die Grenze?
Solcherart Dilemma wird in Wahlkämpfen sogar noch akuter – im Laufe meines politischen Lebens habe ich fünf Wahlkampagnen geleitet, vier gewann ich, eine habe ich verloren. In diesen Tagen verfolge ich Barack Obamas Wahlkampagne, ich verfolge und verstehe sie, ich verfolge sie und werde wütend, ich verfolge sie und mache mir Sorgen. Ich sah seinen Auftritt vor der jüdischen Lobby, wo er sämtliche Rekorde der Kriecherei brach, und ich fragte mich: Was, dies soll der Mann sein, der den großen Wechsel vollziehen will?
Ich hörte, wie er begeistert vom Recht der Bürger, Waffen zu tragen, sprach – und vergrub meinen Kopf; ich hörte, wie er sich für die Todesstrafe aussprach und traute meinen Ohren nicht. Es scheint, als ob sich Obama mit jedem Tag weiter von sich selbst entfernt.
Ich kann mich gut in die Debatten des Obama-Teams hineinversetzen. Er sitzt dort mit seinen Strategen, Meinungsforschern und PR-Leuten; sie sind alle große Experten. Schau, Barack, sagt einer von ihnen, dies sind die Fakten: Die liberale Öffentlichkeit ist sowieso auf deiner Seite; die mußt du nicht gewinnen. Die Konservativen sind gegen dich – daran wird sich nichts ändern. Aber zwischen drin sind Millionen Stimmberechtigte, die das Ergebnis bestimmen werden. Diese mußt du locken. Also sag nichts Ungewöhnliches oder Radikales. Du mußt ihnen die Dinge sagen, die sie hören wollen, mischt sich der Zweite ein, nichts, was nach harten Liberalen riecht, bitte. Wir brauchen auch die Stimmen der Rechten und der Evangelikalen. Alles Definitive stößt Wähler ab, befindet der Dritte, jedes Prinzip hat Gegner, also gehe nicht in die Details, bleibe vage.
Der Kandidat weiß, daß dies alles stimmt. Und wieder steht er vor der Frage: Welche Konzessionen sind zulässig? Wo ist die rote Linie?
Wie entscheidet das Volk, daß ein Kandidat ein »Führer« ist? Ist es eine Frage des Selbstvertrauens? Der Charakterstärke? Des Charismas? Der äußeren Erscheinung? Hatte er bei früheren Aufgaben Erfolg? Glaubt es, daß er oder sie wirklich ihre Wahlversprechen erfüllt?
In diesen Tagen ist es nicht einfach, einen richtigen Eindruck zu bekommen, weil der Kandidat von einer großen Menge PR-Experten umgeben ist, die sein Image manipulieren, ihm Worte in den Mund legen und seine öffentlichen Veranstaltungen inszenieren. Das Fernsehen ist nicht, wie behauptet wird, eine moderne Ausgabe der alten Agora in Athen. Es ist seinem Wesen nach ein verlogenes, verfälschendes Instrument. Doch trotz allem ist es das Image des Kandidaten, das letzten Endes zählt.
Barack Obama hat Millionen Bürger, besonders die Jungen, beeindruckt. Nach Jahren des moralischen Verfalls unter Bill Clinton und den Torheiten George Bushs verlangen sie einen Wechsel, eine neue Botschaft. Und Obama hat ein wunderbares Talent, diese Hoffnung in erhebenden Reden auszudrücken.
Wenn sich Obama seinen Beratern und dem Geflüster des Satans ausliefert, mag er wohl Stimmen des anderen Lagers gewinnen, aber seine Glaubwürdigkeit verlieren – und dies nicht nur im eigenen Lager. Obama muß sich entscheiden, wer er sein will und wieviel er aufzugeben bereit ist, ohne sich selbst aufzugeben. Und vielleicht muß er es wie Charles de Gaulle machen, der als ein Mann des Krieges die Macht ergriff und die Macht gebrauchte, um in Algerien einen schwierigen, fast unerträglich schmerzlichen Frieden zu schließen.
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, von der Redaktion gekürzt
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