Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 21. Juli 2008, Heft 15

Männer machen Geschichte(n)

von Gerd Kaiser

Eben erschienen in Warschau die Erinnerungen des polnischen Historikers und Diplomaten Stefan Meller (1942–2008). Eine Woche vor seinem frühen Tod am 5. Februar hielt er noch den ersten der beiden Bände in der Hand, ihr Titel: Swiat wedlug Mellera. Die Welt – aus Mellers Sicht. Neben Whiskey oder Whisky, Wodka und Wein säumten auch zahlreiche Anekdoten Mellers Weg auf dem glatten Parkett der Diplomatie.
1997 besuchte Lech Walesa, Präsident der Republik Polen in den Jahren 1990 bis 1995, Paris. Aus diesem Anlaß bat er Stefan Meller, seinerzeit Botschafter in Frankreich, ihm die Rede zu schreiben. »Bis auf das letzte Pünktchen abgestimmt, schrieb ich ihm den Text der Ansprache. Walesa war geradezu frappiert. ›Mein Herr‹, sagte er, ›das ist so geschrieben, als ob ich selbst zur Feder gegriffen hätte.‹« Anders dagegen Walesas Nachfolger Aleksander Kwasniewski. Bei einer Begegnung mit Rußlands Präsident Boris Jelzin kam es, wie Meller berichtet, zu folgendem Dialog:
»Kwasniewski: ›Herr Präsident, wie sind ihre Beziehungen zu den USA?‹
Jelzin: ›Vorzüglich.‹
Kwasniewski: ›Und zu den Deutschen?‹
Jelzin: ›Vorzüglich!‹
Kwasniewski: ›Und zu den anderen NATO-Staaten?‹
Jelzin: ›Ausgezeichnet‹.
Kwasniewski: ›Und zu uns?‹
Jelzin: ›Aber Sie wissen doch Herr Präsident, Probleme zuhauf.‹
Daraufhin Kwasniewski: ›Ah, ich sehe schon, wir müssen so schnell wie möglich in die NATO, damit Ihre Beziehungen auch zu uns vorzüglich werden.‹«
2001 besuchte Meller mit Wladyslaw Bartoszewski (Außenminister 1995 und 2001) Moskau. Bartoszewski versuchte vor geladenen Gästen, prominenten Politikern und Angehörigen des Diplomatischen Korps mit seinem Vortrag die Russen davon zu überzeugen, daß man sich im veränderten Weltgefüge verständigen müsse. In diesem Zusammenhang rief er dazu auf, mit den Amerikanern zu reden. Das Gespräch lohne sich, sie seien wirklich keine Bedrohung. Meller: »Im Höhenflug seiner Gedanken breitete er in einer pathetischen Geste beide Arme aus und donnerte: ›Wovor haben Sie Angst?! Die Amerikaner sind ebenso Europäer wie wir, nur ihre Vorfahren waren Kriminelle!‹ – Die Russen saßen im ersten Moment wie Salzsäulen, glaubten ihren Ohren nicht zu trauen; aber dann donnerten Lachsalven wie Meereswellen durch den Saal. Nur der amerikanische Botschafter Alexander Vershbow, er saß in der ersten Reihe, stutzte, bis ich ihm die witzige Äußerung Bartoszewskis erklärt hatte, und er mit einem (diplomatischen) Lachen einfiel.
Die Russen vergaßen Bartoszewski niemals diesen Vortrag, und noch heute lächelt man in Moskau, wenn von dem Besuch die Rede ist.«
Ende Juni 2003 begleitete Botschafter Meller auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin Präsident Kwasniewski, als dieser Gast Wladimir Putins war. Auf dem Kreuzer Marschall Ustinow sprachen die beiden Präsidenten über die Erdgasleitung aus Sibirien nach Westeuropa, über Visamodalitäten für Reisen zwischen Polen und Rußland, über die Zukunft der Beziehungen zwischen den beiden Staaten. Meller schreibt: »Ich stand an der Reling und ließ mir die Sonne auf den Pelz brennen. Plötzlich lud mich Kwasniewski mit einem Wink ein, am Gespräch teilzunehmen. Kwasniewski war bemüht, Putin bei guter Laune zu halten. Der lachte oder lächelte auch über den einen oder anderen Witz. Seine Augen ließen wie immer keine Regung erkennen, beobachteten jedoch scharf die Umgebung. Es war der Blick des Berufstschekisten. Scheinbar unverhofft überbrachte ihm ein Flottenbefehlshaber eine Meldung. Putin lächelte breit, um nicht zu sagen fröhlich, und sagte: ›Aleksander, eben erfuhr ich, daß wir mit einem Torpedo ein U-Boot ›getroffen‹ haben, dessen Namen Warszawianka ist.‹ Kwasniewski fragte, etwas bestürzt aber interessiert: ›Woher kommt der Name Warszawianka?‹ Putin lächelte, breitete die Arme aus und sagte: ›Keine Ahnung.‹
Ich war mir sicher, daß dies alles für uns inszeniert war. Ein unschuldiges Manöver, aber wenn schon etwas getroffen werden soll, dann die Warszawianka. Da kam mir ein Gedanke. Ich bat: ›Wladimir Wladimirowitsch, könnten Sie bitte feststellen lassen, wann erstmals eines Ihrer Schiffe den Namen Warszawianka erhielt? Die im Manöver getroffene Warszawianka muß erst jüngst diesen Namen erhalten haben. Ich wette meinen Kopf, daß es nach 1924 gewesen sein muß, als ein Schiff erstmals diesen Namen erhalten hat.‹
Putin zeigte sich überrascht, seine Augen blickten jedoch nach wie vor kalt. Er zitierte den Verteidigungsminister Sergej Iwanow herbei, der in Marineuniform etwas seltsam anzusehen war. Kurze Zeit später kam Iwanow zurück und flüsterte dem Präsidenten etwas ins Ohr. Der blickte mich an: ›Sie haben ins Schwarze getroffen! Woher wußten Sie, daß erstmals 1926 ein Schiff unserer Flotte den Namen Warszawianka erhielt?‹ ›Das ist ganz einfach‹, antwortete ich. ›Als Lenin 1897, nach vierzehnmonatigem Gefängnisaufenthalt nach Sibirien verbannt wurde, nach Schuschenskoje, traf er dort auf einige russische Sozialdemokraten, aber auch auf verbannte Polen. Von ihnen hörte er erstmals die Warszawianka. Sie wurde zu seinem Lieblingslied. Nach der Revolution, nunmehr mit russischem Text, war es unter den Bolschewiki so populär, daß es bei allen offiziellen Trauerfeierlichkeiten in Sowjetrußland gespielt wurde. Lenin summte die Melodie der Warszawianka ebenso gern wie die der Mondscheinsonate Beethovens.
Irgendwann hat er einmal geschrieben, obwohl er Beethoven verehrte, daß ein wirklicher Revolutionär die Mondscheinsonate nicht zu lange hören solle, weil die traurige Melodie den Willen zum revolutionären Kampf einschläfere.
Nach Lenins Tod, 1924 muß einer der Flottenbefehlshaber, der um Lenins Liebe zur Warszawianka wußte, dafür gesorgt haben, daß erstmals ein neues Schiff der Sowjetflotte auf den Namen Warszawianka getauft wurde. Damit dürfte klar sein, daß der Name nur sehr entfernt mit unserer Hauptstadt zu tun hat.‹
Präsident Kwasniewski zeigte sich erfreut, Putins Späßchen hatte sich nicht als besonders witzig erwiesen. Auch Putin blickte nunmehr anders und fragte, woher ich das wisse. ›Nicht, weil ich Geschichte studiert habe, weiß ich das, Wladimir Wladimirowitsch, sondern weil ich älter bin als die beiden Herren Präsidenten, die in ihrer Schulzeit wohl nicht allzuviel über Lenin erfahren haben.‹«

Swiat wedlug Mellera. Z˙ycie i historia: ku wolnosci (Leben und Geschichte: Der Freiheit entgegen). Band 1, Rosner & Wspólnicy Warszawa 2008, 295 Seiten, 29 Zloty; Z˙ycia i polityka: ku prszyszlosci (Leben und Politik: Der Zukunft entgegen) Band 2, 311 Seiten, Rosner & Wspólnicy Warszawa 2008, 30 Zloty