von Hermann-Peter Eberlein
Paris, Sommer 1733: Monsieur de Voltaire und einige seiner Freunde treffen sich zu einem Souper in einem Gasthof außerhalb der Stadtmauern. Mit dabei: die Marquise Emilie du Châtelet. Wenig später sind die beiden ein Liebespaar – eine Liaison, die bis zu Emilies Tod währen sollte und die zu jenen seltenen und bemerkenswerten gehört, bei denen beide Partner geistig gleich selbständig und schöpferisch sind.
Emilie, Tochter des Zeremonienmeisters Ludwigs XIV., hat sich schon als Kind durch einen unstillbaren Wissensdrang ausgezeichnet – und das zu einer Zeit, da selbst Prinzessinnen die Klosterschule oft genug als halbe Analphabetinnen verließen. Der Vater hat den Bildungshunger seiner Tochter unterstützt, solange er die Chancen auf eine gute Partie nicht verminderte. Mit achtzehn hat sie ihren Marquis geheiratet, drei Kinder hat sie ihm geboren und damit alle Pflichten erfüllt, deren Wahrnehmung ein Aristokrat von seiner Frau erwarten darf. Nun nimmt sie im Einvernehmen mit ihrem Mann die Freiheiten in Anspruch, die die Gesellschaft des Rokoko einer hochadeligen Frau unter Einhaltung einer gewissen Diskretion durchaus zubilligt: Sie nimmt sich Liebhaber – so den steinreichen Herzog von Richelieu und den Mathematiker Maupertuis – und sie widmet sich den Wissenschaften.
Die Verbindung mit dem um ein Jahrzehnt älteren Voltaire ist zunächst durchaus sexuell dominiert: »Dein ganzer Körper ist empfindsam – deine Lippen erfreuen sich einer Sinnlichkeit, die unerschöpflich ist«, schreibt der Geliebte im Blick auf die gemeinsame Zeit in Cirey. Dort, in der Champagne, bauen sich die beiden ein Nest: Sie renovieren ein halbverfallenes Schloß aus der Erbschaft von Emilies Ehemann, sie genießen die Freuden körperlicher Liebe, führen in einem eigens eingerichteten Laboratorium physikalische Experimente durch. Sie üben sich in historischer Bibelkritik, beschäftigen sich mit Newtons mathematischen Entdeckungen, und sie führen in einem eigens errichteten Privattheater – dem ältesten in Frankreich – Voltaires Stücke auf. Als Emilie 1749 im Kindbett stirbt (ein jugendlicher Liebhaber ist der genetische, der Ehemann der rechtliche Vater des Kindes), hat sie gerade ihr wichtigstes Buch vollendet: Principes mathématiques de la philosophie naturelle. Voltaire hat für lange Zeit seinen Lebensmittelpunkt verloren – und Europa eine der ersten Frauen seit der Renaissance, die sich als Vertreterinnen der Wissenschaft einen eigenen Namen gemacht haben.
Voltaire, der Exponent eines ganzen Zeitalters, Großschriftsteller und Geschäftemacher zugleich und das Symbol der Aufklärung schlechthin: auch er ist ein Paradefall von Emanzipation: der bürgerlichen. Daß der Advokatensohn, der sich selbst geadelt hat, freilich nicht bloß bis zum Großintellektuellen, sondern dazu noch bis zum gentilhomme ordinaire de la chambre du roi aufsteigt, hat er einer weiteren Emanzipierten zu verdanken: Jeanne-Antoinette Poisson, die wir als Madame de Pompadour kennen und die als maîtresse en titre Ludwigs XV. mehr als anderthalb Jahrzehnte das Schicksal Frankreichs erheblich bestimmt hat.
Der neunjährigen Jeanne-Antoinette, Tochter eines bürgerlichen Heereslieferanten, hatte einst eine Wahrsagerin prophezeit, sie werde die Mätresse des Königs werden – und das zu einer Zeit, da sich ausschließlich Schönheiten aus dem hohen Adel Hoffnungen machen konnten, den Rang einer offiziellen königlichen Nebenfrau zu erklimmen. Aber die Frau eines Finanzpächters kann warten. Anfang 1745, dreiundzwanzigjährig, gelingt es ihr, den König auf einem Maskenball in ihren Bann zu ziehen. Es wird eine Liebesgeschichte mit allen Phasen vom sexuellen Furor (der nur kurz anhält) bis zu einer Freundschaft und Vertrautheit, der keine der vielen weiteren Gespielinnen des Königs etwas anhaben kann. Aus dieser Position heraus fördert sie Künstler und Literaten (neben Voltaire etwa ihren Lehrer Crébillon), begründet – als Konkurrenz zu Meißen – die Porzellanmanufaktur in Sèvres und betreibt Außenpolitik: Sie bewegt den König zum Bündnis mit Österreich im Siebenjährigen Krieg – und beendet damit eine Erbfeindschaft, die seit dem Streit um das Burgundische Erbe Karls des Kühnen die europäische Politik bestimmt hatte. Und siehe da: Die ach so fromme, moralisch ach so gestrenge Kaiserin Maria Theresia bedankt sich persönlich bei ihr. Die Aufsteigerin aus der Bourgeoisie – unbußfertige Sünderin immerhin aus Sicht der Kirche – und die Römische Kaiserin machen einander Komplimente.
Ihr Leben lang hat die Pompadour gekränkelt. Im Februar 1764 verschlechtert sich ihr Zustand dramatisch; ihr treusorgender Ludwig besucht sie fast täglich. Als er zwei Tage nach ihrem Tod dem Trauerzug nachblickt – ein König darf keinem Sarge folgen – gesteht er unter Tränen: »Das war die einzige Ehre, die ich ihr erweisen konnte.«
Emilie und Voltaire, die Pompadour und Ludwig XV.: zwei Liebesgeschichten, in denen sich zugleich die emanzipatorischen Regungen eines ganzen Jahrhunderts spiegeln. An seinem Ende werden die beiden großen Revolutionen – die amerikanische und die französische – stehen, denen wir unsere elementaren Freiheitsrechte verdanken. Die beiden Paare an der Spitze der Gesellschaft des ancien régime haben sie nicht mehr erlebt – und unbewußt doch mit vorbereitet.
David Bodanis: Emilie und Voltaire. Eine Liebe in Zeiten der Aufklärung, Rowohlt-Verlag Reinbek bei Hamburg 2007, 448 Seiten, 22,90 Euro; Evelyne Lever: Madame de Pompadour. Eine Biographie, Piper-Verlag München und Zürich 2008, 480 Seiten, 9,95 Euro
Schlagwörter: Hermann-Peter Eberlein, Voltaire