von Ines Fritz
Naja, Helen, die besten Sachen machst du immer, wenn keiner guckt. So bist du.« Und wenn keiner guckt, schmiert sich Helen intime Sekrete als Parfümersatz hinters Ohr. Oder sie verteilt massenhaft Bakterien. In einem Krankenhaus. Sie reißt sich für ihren Traum der heilen Familienwelt erfolglos den Schließmuskel auf und nennt ihn rotzfrech Arsch. Aber sie hat eine Ausrede: Sie ist ein Scheidungskind, und sie zerstört mit ihrer Angst vor dem Erwachsen werden ihre Familie. Aber doch letztlich nur ihre Eltern. Und die sind ja irgendwie selbst schuld. Sie selbst hat sich zu ihrem 18. Geburtstag sterilisieren lassen und es mit viel Mühe zu einem fast perfekten Familienersatz gebracht, zu einer hübschen Sammlung sexuell mißbrauchter Avocadopflänzchen. Sie hat aber auch etwas gegen Rassisten, ein Ausländer rasiert ihr die Beine und noch viel mehr. Das ist doch schon mal was. Irgendwie nett. Ein guter Einstieg. Es ist noch nicht alles zu spät. So hofft man. Und wird eines Besseren belehrt. Es ist alles noch viel ekliger.
Funny van Dannen läßt in einem seiner besten Songs ein trauriges Arschloch als Kunst im öffentlichen Raum nackt – aber zumindest keimfrei, weil aus Plastik – in der Kälte rumstehen und fragt: »Ein trauriges Arschloch steht drüben am Zaun. Hat es jemand vergessen, hat es jemand verhaun?« Charlotte Roches trauriges Arschloch heißt Helen Memel, ist 18 Jahre alt, krank und verkeimt, und liegt in der proktologischen Abteilung eines Krankenhauses. Für sie ist Sex Therapie, und er hilft auch gegen Schmerzen. Vor allem wenn er weh tut. Und sie tauscht ständig Körperflüssigkeiten aus. Gern auch gegen den Willen der Probanden und eher einseitig. Vor diesem Motiv ist der Handlungsrahmen bei Charlotte Roches Debütwerk konsequent gesetzt: Wo wäre ein trauriges Arschloch wohl besser aufgehoben als eben in einer proktologischen Abteilung eines Krankenhauses? Aber sind wir ehrlich (und nicht gemein): Menschsein ist unhygienisch. Und das bekommt Charlotte Roche hin: Sie macht Unhygiene lesbar. Roger Willemsen meint über Feuchtgebiete, es sei für ihn »voller Gegenwart«. Ich frage: Wessen Gegenwart? Darüber kann man streiten. Ich meine, davon bekommt man bestimmt Herpes. Soviel Autoaggression erleben zu müssen, lähmt jedes Immunsystem. (Für Helen wäre dieser Satz Beginn eines neuen Antihygiene-Experiments.)
Über die Folgen innerer und äußerer Verletzungen im inneren und äußeren Intimbereich zu schreiben, scheint mutig, aber das ist es bei Charlotte Roche leider nicht. Es ist gefühlskalt, wird aber schön schmierig dahergeplappert. Ein Tabubruch mit wenig Hoffnung auf ein schmerzfreies Morgen. Und es bietet keine brauchbaren Lösungen. Finden kann man in diesem Buch ein gequältes, ekelresistentes schambefreites Mädchen, das ihre Umwelt zur Petrischale ihrer Bedürfnisse macht und sich eben, so gut es kann, mit verschmierten Sekreten gegen die Gefühlskälte der Familie wehrt. Eine Sterilisierte verweigert sich dem Sterilen. Es wird kräftig pubertiert, und es bleibt subtil. Wenn aber Hygiene reaktionär ist, ist dieses Buch die Revolution. Wenn nicht, ist es der schamlose Monolog eines verzogenen Rotzlöffels auf der erfolglosen Suche nach Autonomie. Aber statt es einfach besser als »Mama« zu machen, rebelliert diese Anti-Heldin als chronische Sekretverschmiererin gegen Konventionen, Verantwortung und Hygienefanatismus. Zumindest letzteres in der Praxis sehr erfolgreich.
Charlotte Roche: Feuchtgebiete, Dumont Buchverlag Köln 2008, 219 Seiten, 14,90 Euro
Schlagwörter: Charlotte Roche, Ines Fritz