Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 21. Juli 2008, Heft 15

Arm das Land, das Helden braucht

von Wolfgang Haible, Peking

Wer kennt »Runner Fan«? So wird in China jener Lehrer genannt, der vor dem Erdbeben davonlief und seine Schüler im Stich ließ. Nun ist es kein Verbrechen, in einer Katastrophe davonzulaufen und Rette-sich-wer-kann zu denken. Nicht jeder ist als Kapitän geboren und verläßt als letzter das sinkende Schiff.
Fan Meizhong hatte an der Beida, der Elite-Universität Nr. 1 von Peking, gelehrt. Jetzt wurde ihm für fünf Jahre die Lehrerlaubnis entzogen. Sein Fehler war weniger, daß er um sein Leben rannte, als vielmehr, daß er das aussprach, was viele andere hier denken! Er schrieb in sein Internettagebuch, daß er in jenem Moment nicht an seine Schüler gedacht habe, nicht einmal an seine Mutter, sondern höchstens an seine kleine Tochter und natürlich an sich – seine Frau erwähnt er nicht.
Bei Fan Meizhongs Flucht handelte es sich ganz offensichtlich nicht um unterlassene Hilfeleistung. Inkriminiert wird er, weil er eine für das offizielle China unbequeme Wahrheit aussprach: daß jeder sich selbst der Nächste sei. Ich habe noch keinen Studenten getroffen, der Mitglied der Kommunistischen Partei werden wollte und sich davon keinen (beruflichen) Vorteil versprochen hätte.
Aber die Lüge, daß es ganz anders sei, ist bei uns in Deutschland genauso von Nöten wie hier im Fernen Osten. Wer wagt denn in Deutschland zu sagen, daß die soziale Marktwirtschaft in Wirklichkeit eine Wolfsgesellschaft zeugt – Wölfe sind übrigens ganz anders; wir von einer Klasse korrupter Politiker regiert werden, denen ihr Wohlergehen – auch und vor allem nach dem Ausscheiden aus dem Parlament – allemal wichtiger ist als das der Mehrheit der Bevölkerung; Demokratie bei uns ein verblichener, längst zweifelhaft gewordener schöner Schein ist? Daß unsere Reichen und Mächtigen moralisch auf dem primitivsten Niveau des Bereichert euch, koste es, was es wolle, angekommen sind?
Würde so einer noch ein gutbezahlter Journalist, Lehrer oder gar Professor werden können? Bei Millionen von Arbeitslosen bedarf es keines formellen Berufsverbots mehr.
Fan Meizhong, der chinesische Lehrer, will sich wehren, das ist die gute Nachricht. Im Internet wird er entsprechend der herrschenden Moral beschimpft, es gibt sogar ein Video und ein Lied gegen ihn. Ihm entgegengestellt wird eine junge Polizistin, die bei der Katastrophe ihre ganze Familie, auch ihr Neugeborenes, verlor und jetzt ihre Muttermilch einem fremden Kind gibt. Die Frau ist sicher besser als das, was die Medien aus ihr gemacht haben.
Das alles ist in China nicht neu und erinnert stark an die Helden und Antihelden, die vor ein paar Jahren während der Lungenkrankheit SARS medial produziert wurden. Damals bekam ein Krankenpfleger Berufsverbot, weil er sich geweigert hatte in einem SARS-Krankenhaus zu arbeiten, jetzt bekommt ein Lehrer Berufsverbot, weil er aussprach, was diese Gesellschaft zusammenhält.